Wo soll dieser Beitrag jetzt eigentlich hin, im THD Blog? Gesundheit oder digitale Wirtschaft? Ich habe mich nach kurzem Überlegen für letzteres entschieden, obwohl es doch um Künstliche Intelligenz (KI) im Gesundheitswesen geht. Aber eben aus Sicht der Wirtschaft. Deshalb. Und wer wüsste nicht, dass die Gesundheit – neben den enormen und unbestreitbaren Benefits für die Menschen – auch Big Business ist. Und zwar so richtig. Welche Rolle die KI dabei möglicherweise spielen kann, werde ich euch gerne mal skizzieren.
Worum geht’s hier eigentlich?
Medtech Europe, also der europäische Medizintechnikverband, hat beim Beratungsunternehmen Deloitte eine Studie[1] zum sozioökonomischen Impact von KI im Gesundheitswesen in Auftrag gegeben. Die Ergebnisse sind spannend und irgendwie krass zugleich, weil es mich immer wundert, wie weit man in die Zukunft rechnen kann. Aber Zahlen sind in der Wirtschaft natürlich das A und O. Ohne die Kalkulation zu erwartender Gewinne oder einzusparender Arbeitszeit geht nichts bei neuen Technologien. Was auch absolut gerechtfertigt ist. Ob allerdings alles dann so wird, wie heute extrapoliert, das steht auf einem anderen Blatt. Zunächst egal, denn worauf es ankommt, ist das Committment zu diesen Zahlen. Sie sind die Zielvorgaben für morgen und übermorgen.
KI-Journey mit vielen Hindernissen
Schauen wir mal auf die KI. Grundsätzlich sind in Bezug auf Gesundheit vier Anwendungsfelder vorgesehen: Diagnostik, Therapie, Public Health sowie die Verwaltung. Um es jedoch gleich vorwegzunehmen. Es gibt auch vier große Felder, die sich dem Durchbruch Künstlicher Intelligenz in der Medizin massiv in den Weg stellen. KI braucht Big Data und da fängt das Problem gleich an. Die Datenlandschaft ist fragmentiert, die Qualität nicht einheitlich. Außerdem geht’s um Datenschutz und Schutz vor Cyberangriffen. Zweiter Punkt sind bislang weitestgehend fehlende rechtliche und regulatorischen Rahmenbedingungen für die Anwendung von KI in Diagnostik und Behandlung. Nummer drei: Die organisatorischen und finanziellen Herausforderungen, also Anschaffung von und Umstellung auf KI-basierte Technologien sowie die dringend notwendige Ausbildung des Personals. Ein weiterer Punkt erscheint mir hier ganz besonders erwähnenswert: Nämlich das Ziel, mit Hilfe von KI den Fokus des Gesundheitswesens von der Heilung auf die Vorsorge zu verschieben.
From care to prevention – so die (absolut sinnvolle) Ansage. Das ist fundamental und im wahrsten Sinne disruptiv. Zumal in einem System, das geradezu brutal von Traditionen, Hierarchie und Besitzstandsdenken geprägt ist. In dem die Gräben gezogen sind, beispielsweise zwischen hospitalem und ex-hospitalem Bereich, zwischen Medizin und Pflege. Hier müssen wahrlich dicke Bretter gebohrt werden. Natürlich ebenso in der Gesellschaft, wo längst nicht bei allen angekommen ist, dass man auch selbst etwas für seine Gesundheit tun kann, soll und muss. Damit sind wir bei der sozialen Herausforderung, dem letzten Hindernis. Patient Empowerment, das heißt, KI befähigt die Menschen mehr Kontrolle über ihre Gesundheit zu gewinnen, überträgt ihnen aber in diesem Zuge auch mehr Verantwortung. Dazu gesellt sich die Aufgabe, der Gesellschaft das notwendige Vertrauen gegenüber einer mehr oder weniger unsichtbaren Macht wie der KI zu geben. Fast hätte ich »einzuimpfen« geschrieben. Ja, ja, man muss vorsichtig sein im Umgang mit Worten in diesen Schattentagen. Wo doch schon jetzt manche glauben, dass wir alle im Rahmen von Zwangsimpfungen mit Nanobots zwecks zentraler Steuerung versorgt werden sollen. Mein Fazit: Puh, in diesem System sind unheimlich viele Variablen. Vor allem weiche Variablen, die schwer vorauszusagen sind. Ceterum censeo… dass Wissenschaftskommunikation auf Augenhöhe auch auf diesem Feld einen wichtigen Beitrag zum Allgemeinverständnis leisten kann.
8 Applikationen, 4 Dimensionen, 3 KPI
Insgesamt acht Applikationen werden der KI von Deloitte zugeteilt: Wearables, Bildgebung, Labor, Monitoring, globale Metadaten, digitale medizinische und pflegerische Assistenz, personalisierte Apps sowie Robotik. Was dem Consumer Bereich seine Customer-Journey, ist im Healthcare-Feld die Patient-Journey. Eine Reise, gepflastert (wie schön Doppeldeutigkeit doch sein kann) mit vielen potentiellen und potenten KI-Anwendungen. Dabei gibt es vier Dimensionen, die nachhaltig von KI beeinflusst werden (können). Die Medizinarbeiterinnen und –arbeiter, die finanziellen Ressourcen, der Zugang zu und die Qualität von Gesundheitsversorgung sowie das Outcome von Prävention und Therapie. Als Key Performance Indicators (KPI) wurden neben den geretteten Leben natürlich auch die Savings bei den Kosten und der Zeit herangezogen. Letzteres muss nicht zwangsläufig negativ interpretiert werden. Gespartes Budget kann auch für Investitionen in weitere Innovationen und Personal verwendet werden, die gesparte Zeit gerne für eine intensivere persönliche Zuwendung zum Patienten.
Nicht leicht, dafür schwer
Ich fasse das Ergebnis zusammen und überlasse es dem geneigten Leser – bzw. der hoffentlich ebenso geneigten Leserin – die Details andernorts herauszuklamüsern. Pro Jahr könnte eine Durchdringung unseres kompletten Gesundheitswesens in Europa mit den aktuell bekannten KI-Lösungen 400.000 Menschen das Leben retten. Das ist dann quasi fast zehnmal die Größe von Deggendorf. Jedes Jahr. Im gleichen Zeitraum würden 200 Mrd. Euro an Kosten eingespart, was wiederum 12 Prozent der Gesundheitsausgaben in der gesamten EU (2018) entspricht. Und last but not least, 1,8 Mrd. Stunden könnten besser genutzt werden, weil KI den Job in dieser Zeit übernimmt – im übertragenen Sinne. 1,8 Mrd. Stunden, das ist das Äquivalent von 500.000 Vollzeit-Healthcare Professionals.
Ich weiß, KI machte vielen Menschen Angst. Aber Untersuchungen wie diese sollten doch dazu beitragen, richtig Mut zu machen. Veränderung ist immer schwer, klar. Aber wenn die Dinge besser werden sollen, auf der Basis von Wissenschaft und Erkenntnis, dann müssen wir sie mutig angehen. Wie sagte US-Präsident John F. Kennedy 1962 – übrigens bei einer Rede an einer Universität – zum Thema Zukunftsgestaltung: „Wir haben uns entschieden, noch in diesem Jahrzehnt zum Mond zu fliegen (…), nicht, weil es leicht ist, sondern weil es schwer ist“.
In diesem Sinne, sprecht miteinander, nicht übereinander.
Euer Jörg
Jörg Kunz ist promovierter Biologe und PR-Experte mit vielen Jahren Erfahrung in Agentur und Industrie sowie in Expertenorganisationen wie Krankenhaus oder Hochschule. In seinen Blogbeiträgen wirft er einen persönlichen Blick auf aktuelle Ereignisse und betrachtet diese aus der Sicht der Kommunikation bzw. im speziellen aus Sicht der Wissenschaftskommunikation.
Quellen:
[1]»The socio-economic impact of AI in healthcare«, Oct. 2020, Deloitte; https://www.medtecheurope.org/resource-library/the-socio-economic-impact-of-ai-in-healthcare-addressing-barriers-to-adoption-for-new-healthcare-technologies-in-europe/