Nobelitis, Nobel-Krankheit oder auch Nobelpreis-Syndrom. Zugegeben, es handelt sich dabei um keine diagnostizierbare Krankheit, sondern um Begriffe, die ein interessantes Phänomen beschreiben: Nobelpreistragende, die sich (meist in späteren Jahren) neuen Interessensfeldern zuwenden und sich darin wie selbstverständlich als Experten verstehen – mit durchaus fantastischen Auswüchsen.
When life gives you lemons…
Wer ein Fan von nicht ärztlich diagnostizierten Mangelerscheinungen ist und regelmäßig Nahrungsergänzungsmittel im Küchenschränkchen stapelt, könnte ein begeisterter Fan von Linus Pauling werden. Der amerikanische Chemiker gewann 1954 den Nobelpreis für seine wegweisende Forschung zu chemischen Verbindungen, insbesondere seiner Beiträge zur Valenzbindungstheorie. (Tatsächlich gewann er 1962 ebenfalls den Friedensnobelpreis für seinen Einsatz gegen Atomwaffentests. Das macht ihn zum einzigen Laureaten mit zwei Auszeichnungen, der keine von ihnen mit einer weiteren Person teilt. Dass er sich seinem politischen Anliegen gemeinsam mit seiner Frau Ava Helen Pauling, einer Vollblut-Menschenrechtsaktivistin, engagierte, war dem Komitee anscheinend nicht der Rede wert. Traurigerweise hat sie nicht einmal einen deutschen Wikipedia-Eintrag.)
Pauling entdeckte in den 70ern die Megavitamintherapie als Forschungsfeld für sich. Dabei handelt es sich um die hochdosierte Einnahme von Vitaminen zur Behandlung oder Vorsorge von Krankheiten: Von Schnupfen über Grippe bis hin zu Schizophrenie und Krebs. In einem Interview Anfang der 90er Jahre, welches man noch auf YouTube findet, erklärte er, dass er persönlich täglich 18 Gramm zu sich nehme. Das klingt vielleicht für Laien zunächst nicht nach viel, in Zitronen umgerechnet, müsste man aber ca. 257 Stück essen, um auf diese Menge zu kommen. Wer eher auf Sauerkraut steht, kann sich davon in einem Industriekochtopf auch gerne 129 Kilogramm zubereiten (Vitamin C ist jedoch hitzeanfällig, deswegen empfehle ich, mit der Menge an Krautköpfen nicht zu zimperlich zu sein.)
Die Dosis macht das Gift
Für seine Theorie gibt es keinen Beleg, was aber nicht an einem Mangel an Studien liegt. Ein unbegründetes, regelmäßiges Zuviel an Vitamin C kann im Gegenteil auch schädlich sein, beispielsweise für die Nieren. Letztendlich muss man sich nicht auf Zitronen oder Sauerkraut verlassen – eine ausgewogene Ernährung schützt gesunde Personen ausreichend davor, wie Skorbut gebeutelte Seeleute aus dem 16. Jahrhundert über Bord zu gehen (Tipp: Wer sich in seinem Essverhalten unsicher ist, erhält kompetenten Rat bei der Ärztin oder dem Arzt des Vertrauens, nicht bei Influencern mit Namen wie „FitnessClaudi“ oder „PumperBert“).
Dass Paulings Theorie beziehungsweise Grundidee trotzdem auch heute noch eine große Anhängerschaft findet, merkt man beim Durchlesen der Videokommentare. Teilweise enthalten sie hilfreiche Tipps, wie Pauling seine Vitaminkur nach heutigem Stand der Pseudowissenschaft optimieren hätte können. Meinem YouTube-Algorithmus tut dieses Video jedenfalls nichts Gutes. Mir wird bereits ein Video zur „wirklich ganzen Wahrheit über Corona“ vorgeschlagen. Ein Cartoon über eine lustige Zitrone hätte mir besser gefallen.
Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser
Die WHO nennt für Erwachsene übrigens einen Richtwert von 45 Milligramm per Tag, die Deutsche Gesellschaft für Ernährung 95 Milligramm für Frauen und 110 Milligramm für Männer. Einen definitiv bezifferbaren Bedarf gibt es auch unter Einbeziehung weiterer, vertrauenswürdiger Quellen nicht – die Unterschiede sind aber minimal. Keine Empfehlung ist jedoch auch nur im Ansatz so hoch wie Paulings 18 Gramm.
Man kann sich jetzt fragen, was das denn ausmacht, wenn ein Nobelpreisträger eine verquere Idee hat und irgendjemand diese nachplappert. Ganz einfach. „Laut Nobelpreisträger Linus Pauling kann hochdosiertes Vitamin C das Immunsystem stärken“, klingt gleich ganz anders als „mein Onkel nimmt regelmäßig hochdosiertes Vitamin C und er war seit 15 Jahren nicht mehr krank“. Gefährlich wird es, wenn Patienten bei ernsten Erkrankungen auf diese Aussagen vertrauen und dafür bewährte, wirksame Behandlungsmethoden ausschlagen.
Linus Paulings Erkenntnisse zur Struktur von Molekülen und der Entschlüsselung chemischer Bindungen waren maßgebend für die Entwicklung der Quantenchemie und Molekularbiologie. Seine medizinischen Annahmen hingegen konnten weder er noch andere Forschende je belegen, was der Anhängerschaft von Paulings Vitamintheorie aber bis heute keinen Abbruch tut. Die Selbstverständlichkeit mit der er seine These zur Megavitamintherapie als wahr darstellte, demonstriert, wie wichtig es ist, Glaubhaftigkeit nicht am Ruf einer Person zu messen. Viel wichtiger ist es, die Methoden der Forschung zu verstehen – und das ist mitunter nicht leicht. Zuletzt ist nämlich auch die Wissenschaft eine, naja, Wissenschaft.
Fun Fact: Ich wollte mit einem interessanten Fakt zu Zitronen abschließen und habe dafür ChatGPT befragt: „Zitronen haben zwar einen sauren Geschmack, wirken aber alkalisch. Das bedeutet, dass sie helfen können, den pH-Wert im Körper auszugleichen und eine basenbildende Wirkung zu erzielen.“ Nur leider entstammt dieses Argument den pseudowissenschaftlichen Lehren zum Säure-Basen-Haushalt. Dafür, dass Nahrungsmittel den streng geregelten pH-Wert des menschlichen Körpers, insbesondere den des Blutes, beeinflussen könnten, gibt es nämlich keinen einzigen wissenschaftlichen Beweis. Nicht gerade was ich mir als „Fakt“ vorstelle. Danke, KI.
Teresa Eggerstorfer
Teresa Eggerstorfer ist Medienwissenschaftlerin mit einem Faible für Linguistik. An der THD schreibt sie Texte für die Hochschul- und Wissenschaftskommunikation, dabei lässt sie ab und an das ein oder andere Shakespeare-Zitat fallen. Nur selten findet man sie ohne koffeinhaltiges Getränk.