DIE ZEIT nennt ihn mal den SPD-Daueralarmisten, dann – im besten Sinne des Wortes – den Besser-Wisser. Die Rede ist von Karl Lauterbach. Parlamentarier, Gesundheitsökonom, Epidemiologe, Harvard-Gastprofessor. Ein Mann mit enormem Sendungsbewusstsein. Wer noch altmodisch linear schaut, entkommt ihm nicht. Ein ebensolches Sendebewusstsein, oder wenigstens so etwas Ähnliches, wünscht Lauterbach sich auch von anderen Wissenschaftlern. Respektive Wissenschaftlerinnen. Sie sollen aktiv in die Politik einsteigen. Nur so sei wirklich etwas zu bewegen. Mit Präsenz und Wissenschafts-kommunikation auf allen Kanälen. Egal, ob Corona oder Klima.
Wissenschaft muss mitmischen
Da stellt sich zu allererst die Frage: Wer will das denn aushalten, was ein Lauterbach aushält? Auch wenn eine Mehrheit seine Fachkompetenz und seine Leidenschaft respektiert, besonders beliebt scheint der Mann ja nicht gerade zu sein. Kein Wunder, schließlich hat er sich zweier Themen angenommen, die keiner mehr hören kann (weil schon zu lange da), bzw. nicht hören will (weil noch nicht so richtig da). Aber recht hat Lauterbach dennoch. Die Wissenschaft muss sich mehr Gehör verschaffen. Das möchten grundsätzlich auch die Bürgerinnen und Bürger. Drei Viertel der Befragten meinten für das Wissenschaftsbarometer 2019, dass sich Wissenschaftler öffentlich äußern sollen, wenn politische Entscheidungen Forschungsergebnisse nicht berücksichtigen. Mehr als die Hälfte findet, dass politische Entscheidungen wissenschaftsbasiert sein sollen und 50 Prozent meinen, dass es auch die Aufgabe von Forschenden ist, sich in die Politik einzumischen.
Und das alles schon lange vor der Pandemie. Andere haben da weit weniger Scheu, die Debatten zu bestimmen, die Gesetzgebung zu beeinflussen. 6.000 Lobbyisten soll es in Berlin geben, knapp 800 mit direktem Zugang zum Bundestag. Aber das ist ein anderes Thema. Ich will ja nicht unbedingt von Bismarck auf die Preiselbeeren kommen. Aber dafür auf einen seiner Zeitgenossen.
Was hat Röntgen damit zu tun?
Denn während ich so über die Stimme der Wissenschaft nachdenke, begegnet mir ganz aktuell der Jahrestag einer ihrer Sternstunden. Am 8. November 1895 entdeckte nämlich Wilhelm Conrad Röntgen die später nach ihm (aber nicht von ihm) benannten Strahlen. „Durch Zufall“, wie er übrigens im Januar 1896 bei der ersten öffentlichen Präsentation seiner Forschungsergebnisse bescheiden einräumte. Wer würde das in dieser Form heutzutage schon zugeben, hm? Sechs Wochen lang verließ Röntgen sein Labor quasi gar nicht mehr. Obwohl er mit seiner Frau Bertha im gleichen Haus wohnte. Von seiner Arbeit hatte er niemandem etwas gesagt. Nur Gattin Bertha ließ er wissen, dass er etwas mache, „von dem die Leute, wenn sie es erfahren, sagen werden: »Der Röntgen ist wohl verrückt geworden«." Erst nach zahlreichen akribischen Nachforschungen machte er sich an die Publikation, die er Ende 1895 herausgab: »Über eine neue Art von Strahlen«, so der aus heutiger Sicht ziemlich unspektakuläre Titel. Nun, inzwischen wissen wir, dass diese „neue Art von Strahlen“ alles andere als unspektakulär waren. Sie haben die Medizin revolutioniert.
Ich frage mich, wenn ich das Ansinnen von Lauterbach nach mehr Wissenschaftlern in Politik und Öffentlichkeit neben die Geschichte um das Jubiläum eines Genies wie Röntgen lege, was würde der alte Kauz (als solcher wurde Röntgen von Zeitgenossen nämlich beschrieben, als Sozialphobiker geradezu) wohl sagen, wenn er erleben könnte, wie der Wissenschaftskommunikationsladen heute (zum Teil) läuft? Vorab-Publikationen, Talk-Shows, Twitter-Gewitter, Boulevardmedien. Dazu Millionen von selbsternannten Besser-Wissern mit YouTube-Abschluss, die sich immer und überall lautstark zu Wort melden. Man darf das nicht verkennen, auch der Physiker aus Würzburg war mit seiner Entdeckung damals Tagesgespräch. In einen Menschen hineinschauen zu können, das war ungeheuerlich und faszinierte die Leute über alle Maßen. Die Strahlen wurden Thema von Revuen und Romanen, Röntgen selbst ein Superstar der Wissenschaft. Aber Rummel war ihm wohl eher ein Gräuel. Für Social Media hätte er ganz sicher nicht getaugt. Aus Sicht der Fame-Gesellschaft unvorstellbar: der Mann hat nicht nur auf die Anmeldung eines Patents verzichtet. Er hat auch noch das Preisgeld, das er 1901 zusammen mit dem Nobelpreis für Physik erhielt, der Universität Würzburg gespendet.
Ich finde, solche Ereignisse gedanklich miteinander zu verknüpfen, Parallelen zu ziehen und den Zeitgeist kritisch zu hinterfragen, immer bereichernd. Es relativiert und erdet. Die Zeit Röntgens als Wissenschaftler, das frühe 20. Jahrhundert, war „eine Epoche atemberaubender Veränderungen“, wie es der wunderbare Historiker und Schriftsteller Philipp Blom ausdrückt. Massenwirkung inklusive. Nicht anders erleben wir unsere Zeit heute. Unsere Röntgenstrahlen heißen eben KI, Robotik oder Autonomes Fahren. Kauzig und introvertiert müssen wir deswegen nicht sein.
Zum Schluss noch das hier: Röntgen hat per Testament verfügt, dass mit Ausnahme der Originalpublikationen alle seine Aufzeichnungen vernichtet werden sollen. 70 Papers hat er veröffentlicht. Nur drei davon befassen sich mit den „neuen Strahlen“. Denkt mal drüber nach.
In diesem Sinne, sprecht miteinander, nicht übereinander.
Euer Jörg
Jörg Kunz ist promovierter Biologe und PR-Experte mit vielen Jahren Erfahrung in Agentur und Industrie sowie in Expertenorganisationen wie Krankenhaus oder Hochschule. In seinen Blogbeiträgen wirft er einen persönlichen Blick auf aktuelle Ereignisse und betrachtet diese aus der Sicht der Kommunikation bzw. im speziellen aus Sicht der Wissenschaftskommunikation.