Ende Mai wurde Prof. Dr. Dmitry Rychkov, Wissenschaftlicher Leiter am Technologiezentrum kunststoffcampus Bayern in Weißenburg, als Associate Editor für das in Fachkreisen renommierte Magazin »Transactions on Dielectrics and Electrical Insulation« (TDEI) benannt. Diese Nominierung bringt mich zu einem Thema, das gerade wichtiger ist als je. Wissenschaftliche Publikationen. Und was man über den Prozess der Veröffentlichung grundsätzlich wissen sollte.
Science in a tweet
Auf Social Media und auch in den verschiedenen Messenger Diensten werfen sich Hinz und Kunz bei Themen wie Corona oder Klima wissenschaftliche Studien nur so um die Ohren. Mal davon abgesehen, dass vermutlich das Gros der User diese Studien gar nicht versteht, weil nicht wissenschaftlich ausgebildet oder zumindest in den hitzigen und schnellen Tweed/Posting-Schlacht diese nicht sorgfältig gelesen hat, stellt sich noch eine andere Frage. Nämlich die nach der Herkunft bzw. der Seriosität der Publikationen. Stop! Können denn »Papers« (wie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre Abhandlungen gerne nennen) unlauter sein, unseriös? Tja, in der Tat, das können sie. Und zwar gar nicht so selten.
Peer-Review-Verfahren
Um die Qualität von Forschung möglichst hoch zu halten, aber auch um zugleich Fälschungen und Betrug sowie ungenügende oder schlampige wissenschaftliche Arbeiten zu eliminieren, vertraut man bei der Veröffentlichung von Forschungsergebnissen dem sogenannten Peer-Review-Verfahren. Reicht man seine Arbeit bei einem »Journal« (Englisch ausgesprochen und Forschersprech für Wissenschaftsmagazin) ein, wird diese zunächst von gleichrangigen Expertinnen (»Peers«) kritisch begutachtet (»Review«). So wird zum Beispiel Prof. Rychkov in seiner Rolle als Associate Editor zukünftig geeignete Reviewer für die Überprüfung neuer Papers benennen. Er wird die Kommunikation innerhalb des Reviewprozesses koordinieren und am Ende die Entscheidung treffen, ob eine Arbeit zur Publikation angenommen wird, nochmals überarbeitet werden muss oder gar abgelehnt wird. Wir können also weitestgehend annehmen, dass Forschungsergebnisse, die in vollwertigen Journals mit einem Peer-Review-Verfahren publiziert wurden, dank dieser bewährten Qualitätssicherung korrekt sind und dem jeweils aktuellen Stand des Wissens entsprechen.
Predatory-Publishing-Methode
Aber jede Medaille hat zwei Seiten. Denn es gibt auch einen anderen Weg für Forschende zu publizieren. Ganz ohne Peer-Review-Verfahren. Man spricht in diesem Kontext vom »Predatory-Publishing-Model« und von Open Access »Raubtier-Verlagen«. Diese geben vor, vollwertige wissenschaftliche Journale zu verlegen. Eine Qualitäts- und Plausibilitätsprüfung der Inhalte eingereichter Manuskripte unterbleibt allerdings vollständig oder zumindest weitestgehend. Die Autoren bezahlen für die Veröffentlichung eine Gebühr. Die »article processing charges« sind in der Regel nicht besonders hoch, weshalb sich vor allem unerfahrene Forschende aus Dritt- und Schwellenländern dieser Methode einer schnellen und unkomplizierten Veröffentlichung bedienen. Aber nicht nur die.
Publish or perish
Im Juli 2018 berichtete die Süddeutsche Zeitung (SZ), dass in den vergangenen Jahren mehr als 5.000 deutsche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Pseudo-Journals publiziert haben. Und die Rede ist nicht nur von unerfahrenen Leuten. Auch Forschende renommierter Einrichtungen wie Helmholtz oder Fraunhofer seien dabei gewesen. Pharma- und Tabakindustrie ebenfalls. Außerdem ein Nobelpreisträger. Weltweit haben gar 400.000 Wissenschaftler Predator Journale für die Veröffentlichung ihrer Papers genutzt. Zwischen 2013 und 2018 habe sich die Zahl der Predator-Papers weltweit verdreifacht, in Deutschland sogar verfünffacht. Zu einer gewissen Ehrenrettung muss ergänzt werden, dass die Raubtier-Verlage sehr clever an ihre Klientel herantreten. Sie geben sich mit viel Aufwand den Anstrich solider und vertrauenswürdiger wissenschaftlicher Kanäle. Und tatsächlich stehen ihre Publikationsreihen in so mancher Universitätsbibliothek. Zu Recht teilte die Helmholtz-Gemeinschaft als Reaktion auf die Recherche von NDR, WDR, SZ und anderen Medien wie Falter und Le Monde mit, dass „das Geschäft [der Raubtier-Verlage] nicht nur den Ruf einzelner Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, sondern auch das Vertrauen in die Wissenschaft selbst schädigt." Man darf sich natürlich durchaus fragen, warum die Leute an den Hochschulen, Universitäten und Bundeseinrichtungen nicht stutzig werden, wenn das Qualitätsprüfverfahren für ein Paper nur wenige Tage dauert. Und eine Veröffentlichung quasi gekauft werden kann. Zur Wahrheit gehört jedoch auch, dass Forschende immer und überall unter einem enormen Publikationsdruck stehen. „Publish or perish“ heißt die Devise. Veröffentliche oder hau ab! Das hat mit Ehrgeiz zu tun. Mit Reputation. Aber vom Publizieren und den daraus generierten Rankings hängen selbstverständlich auch Zusagen für Forschungsanträge ab, manchmal Wohl und Wehe ganzer Forschungseinrichtungen und den dort befindlichen Arbeitsplätzen. Es ist kompliziert.
Integrität bröckelt
Klar ist jedoch auch das: Noch vor wenigen Jahrzehnten galten Wissenschaftler und das, was sie sagten, zumindest in der (nicht-wissenschaftlichen) Bevölkerung als quasi unantastbar. Im positiven Sinne. Heute nicht mehr. Es bröckelt. Bei einer Tour durch das US-Seuchenkontrollzentrum posierte Ex-US-Präsident Trump 2020 mit seinen erstaunlichen Fähigkeiten in der Virenforschung: "Jeder hier fragt mich, warum ich so viel darüber weiß." Ich finde, diese Anekdote ist so bezeichnend für unsere Zeit. Nicht das berechtigte kritische Hinterfragen ist das Problem, sondern die Hochkultur (oder eher Tiefkultur) des Dunning-Kruger-Effekts, der Telegram-Universität, der gnadenlosen Selbstüberschätzung. Wo ist nur die Demut geblieben? Irgendwo was aufgeschnappt, Studie dazu, zack, Experte! Egal ob Virologie, Epidemiologie oder Klimaforschung. Deshalb: Die Wissenschaft muss ihre noch immer starke Integrität bewahren. Gerade im Umfeld einer globalen, oft pseudowissenschaftlichen Multi-Channel-Kakophonie. Ein weiterer Anstieg von irreführenden und/oder falschen Predator-Publikationen, deren Un/Halbwahrheiten überall in den Diskurs einsickern, sind zu vermeiden. Sonst gehen wir schweren Zeiten entgegen. Denn nach Corona kommt (wieder) Klimawandel. Das Kernthema des 21. Jahrhunderts mit all seinen gesellschaftlichen und strukturellen Verwerfungen. Natürlich ist die Moderation solcher Herausforderungen Aufgabe der Politik. Aber die Wissenschaft muss integer, verlässlich und ehrlich an ihrer Seite stehen. Schon jetzt fragen Medien im Zusammenhang mit der Pandemie, ob wir „zu wissenschaftsgläubig“ sind. Als wäre Forschung eine Sache des Glaubens. Wieder jemand, der nicht alles verstanden hat. Wissenschaft muss besser kommunizieren. Und ich fürchte, leichter wird’s nicht, in Zukunft.
In diesem Sinne, sprecht miteinander, nicht übereinander.
Jörg Kunz
Jörg Kunz ist promovierter Biologe und PR-Experte mit vielen Jahren Erfahrung in Agentur und Industrie sowie in Expertenorganisationen wie Krankenhaus oder Hochschule. In seinen Blogbeiträgen wirft er einen persönlichen Blick auf aktuelle Ereignisse und betrachtet diese aus der Sicht der Kommunikation bzw. im speziellen aus Sicht der Wissenschaftskommunikation.