So hab ich die ganze Sache noch gar nicht gesehen. Es geht mal wieder um Verschwörungstheoretiker. Aber das ist interessant, die haben nämlich bei genauem Hinsehen ein Feature, das auch zur DNA jedes Forschers gehört: Den Zweifel. Ist da etwa eine Schnittmenge der diametral gegenüberstehenden Parteien? Ne, ne, ne. Das hält nicht mal dem ersten Blick so richtig stand. Das „In-Frage-stellen“ in der Wissenschaft ist nämlich ergebnisoffen. Es ist der Weg zu neuen, belegbaren und nicht falsifizierbaren Erkenntnissen. Haargenau andersherum in der geheimen Welt der – darf ich VT sagen? Ist kürzer und ich muss es nicht dauernd aussprechen. VT kennen das (fixierte) Ergebnis hingegen a priori, denn klar, sie sind ja keine Schlafschafe. Dann werden die passenden Versatzstücke in der digitalen Büchse der Pandora eingesammelt und alles zu einer (scheinbar) schlüssigen Geschichte zusammengeschraubt. Da findet sich immer was. Denn wie wir wissen, enthielt die ominöse Büchse alles Übel der Welt. Und ein bisschen Hoffnung. Und selbst wenn nichts an Belegen da ist, noch besser. Denn das ist schließlich der ultimative Beweis, dass dunkle Kräfte am Werk sind. 30 Prozent der Deutschen glauben, dass geheime Mächte die Welt steuern, elf Prozent sind sich sogar voll und ganz sicher1. Schon krass, irgendwie.
Da stellt sich uns eine quälende Frage. Dürfen wir die Hoffnung (sic!) haben, mit Argumentation, mit Wissenschaftskommunikation auch solche Zeitgenossen wenigstens dort überzeugen zu können, wo es massenweise fundierte wissenschaftliche Belege gibt? Und wo eine VT einfach nur Blödsinn ist? Friedrich Nietzsche war ja der Überzeugung, dass das angeblich einzig Positive in der Büchse der ollen Pandora, die Hoffnung nämlich, das größte Übel überhaupt sei. Denn die Hoffnung lässt uns (länger) leiden. Also nichts wie weg damit, möchte man meinen. Der Wissenschaftsjournalist Dirk Steffens beantwortet Frage nach einem möglichen Dialog mit klaren Worten: »Wir dürfen unsere Zeit nicht mit Vollidioten verschwenden.« Er meinte damit Klimaforschungsleugner und Coronavirusleugner gleichermaßen. Endlich sagt’s mal einer, denk ich mir da! Und schau an, bereits 2018 wies auch die britische BBC ihre Mitarbeiter an, keine Leugner des Klimawandels mehr in die Berichterstattung aufzunehmen. Das sei für die journalistische Balance, für die Ausgewogenheit keineswegs erforderlich. Sehe ich genauso. Denn im innersten Kern des Problems geht es weder bei Klima noch bei Virologie um Politik, wo die Wahrheit oft irgendwo in der Mitte liegt. „Aber für die Wissenschaft gilt“, so Steffen, „die Wahrheit liegt allein in der Wahrheit. Es kommt nur Unsinn dabei heraus, wenn man die Mitte sucht zwischen einer kugelförmigen und einer scheibenförmigen Erde.“ Plakativer kann man das nicht auf den Punkt bringen.
Das, was die BBC da gemacht hat, wurde dennoch kritisch beäugt. Auch weil es natürlich gleich wieder – die oben beschriebene Logik völlig ignorierend – ein weiteres VT-Narrativ bedient, das der „Systemmedien“. Und hübsch, denn genauso funktionieren diese kruden Argumentationsketten. Politiker unglaubwürdig, weil korrupt. Medien unglaubwürdig, weil auf Linie mit Politikern. Wissenschaftler, Ärzte, etc. alle unglaubwürdig, weil von der Industrie gekauft (wie die Politiker). Im Hintergrund: Bill Gates, der Kaiser von Deutschland werden will, wie ich einer aktuellen VT entnehme. Mit Frau Merkel als Königin. Alles klar, hier schließt sich der Kreis. Wie konnten wir das nur nicht erkennen. Liegt doch auf der Hand. Ironie off.
Stopp! Der Plan war doch anders! Weil, jetzt hab‘ ich einmal mehr fast nur über die Spinner geschrieben. Obwohl – das mit dem Nietzsche war gar nicht mal so uncool. Ein bisschen Philosophie darf schon. Und passt ja auch. Schließlich war Nietzsche der Meinung, dass Misstrauen und Unglaube der einzige Weg zur Wahrheit seien. Aber auch bei ihm kommt der Weg der Erkenntnis vor eben dieser. Und nicht andersrum. Bei der Gelegenheit schließen wir gleich noch einen zweiten Kreis: „Wirkliche Freiheit“, lässt Irvin D. Yalom den Philosophen in seinem Buch »Und Nietzsche weinte« sagen, „blüht nur an der Sonne der Wahrheit auf.“ Die Freiheit, also das, worum es den VT angeblich stets geht (und bei Corona ganz besonders), wird im Schattenreich abstruser, durch nichts wirklich belegbarer Anschauungen wie etwa einer „Plandemie“ sicher nicht gedeihen. Einbildung hin, Einbildung her. Allerdings war es auch einer von Nietzsches unverrückbaren Grenzsteinen, „Werde, der du bist.“ Manchmal wird man halt ein Spinner. Oder eine Spinnerin. Zum Glück nur manchmal, denn die große, auf dem schmutzigen Parkett der sozialen Medien meist stille Mehrheit, ist OK. Immerhin 62 Prozent glauben nicht oder sogar gar nicht an die große Weltverschwörung. Nur acht Prozent stellen den Klimawandel in Abrede. Und „nur“ 15 Prozent glauben, dass die Masernimpfung gefährlicher ist als die Krankheit selbst. Hm.
Auf die Spinner kann man im öffentlichen Diskurs also guten Gewissens verzichten und wir sollten uns von ihnen nicht irritieren lassen. Es bleibt aber noch eine Frage übrig, die auch in den Sozialen Medien immer öfter auftaucht. Was tun, wenn Freunde zu Leugnern von offensichtlichen, wissenschaftlich belegten Wahrheiten werden? Das ist ne Ecke komplizierter, denn da heißt es jetzt selbst handeln. Die Antwort kann demnach nur jeder persönlich für sich finden. Frei nach Nietzsche: Handle, wie der, der du bist.
In diesem Sinne, sprecht miteinander, nicht übereinander.
Euer Jörg
Jörg Kunz ist promovierter Biologe und PR-Experte mit vielen Jahren Erfahrung in Agentur und Industrie sowie in Expertenorganisationen wie Krankenhaus oder Hochschule. In seinen Blogbeiträgen wirft er einen persönlichen Blick auf aktuelle Ereignisse und betrachtet diese aus der Sicht der Kommunikation bzw. im speziellen aus Sicht der Wissenschaftskommunikation.
Quellen:
[1] https://www.kas.de/de/einzeltitel/-/content/sie-sind-ueberall