Es war absehbar, dass sich der Boulevard irgendwann auf die Wissenschaft wirft. Medien skandalisieren gerne und sie lieben die Kontroverse (Learning No. 1). Deutschlands auflagenstärkste Tageszeitung, die BILD, allemal. Die hat jetzt den Drosten als Feind auserkoren. Feind-BILD quasi. Die Zeitung bedient sich dabei journalistisch unwürdiger Methoden und nutzt eine „Schwäche“ der Wissenschaft: Den kontrovers ausgetragenen Diskurs der forschenden Akteure.
Die BILD publiziert am 25. Mai einen Artikel mit der Überschrift „Drosten-Studie über ansteckende Kinder grob falsch“. Grundlage ist die Kritik verschiedener Statistiker an eben der Statistik der Studie. Keiner dieser Leute wird jedoch im Zusammenhang mit der (selbst in Boulevardkreisen als „niederträchtig“ bezeichneten) „Recherche“ zum Artikel interviewt. Es werden lediglich (ungefragt) Twitter-Zitate verwendet (Learning No.2). Diese sind per definitionem nur 280 Unicode Zeichen lang und somit automatisch aus einem wissenschaftlichen Zusammenhang gerissen. Seriös wäre es gewesen, die Tweets zu hinterfragen. Das aber ist nicht geschehen. Drosten wurde von der BILD schriftlich mit den „Zitatfetzen“ (Drosten) konfrontiert, verbunden mit der Frage, was diese für die Aussagekraft seiner Studie bedeuteten. Zeit für seine Antwort: gerade mal rund 60 Minuten (Learning No. 3 – nicht üblich, aber möglich). Der Virologe ließ die Anfrage unbeantwortet, er „hatte Besseres zu tun“. Verstehe ich gut. Der Artikel endete mit der Feststellung, Drosten habe auf Anfrage nicht Stellung nehmen wollen (Learning No. 4). Aber dann gleich noch Learning No. 5 und trotz Corona packen wir uns alle an die eigene Nase: Ist es wirklich so gut, den wissenschaftlichen Diskurs untereinander via Social Media (Twitter) auszutragen? So richtig sinnvoll erscheint es mir nicht, eher schon ein wenig aus der Kategorie „Hallo, ich weiß auch was!“ Irgendwie will halt dann doch jeder auch was vom Fame-Kuchen abhaben. Dass es darüber hinaus auch unter Forschenden Eifersüchteleien und Missgunst – und entsprechende viral-verbale Zündeleien – gibt, ist unbestritten, das lasse ich aber hier mal außen vor. So oder so, die Boulevardmedien freut’s auf jeden Fall. Quod erat demonstrandum.
Auch der nachfolgende Streit zwischen den Wissenschaftlern auf der einen und der BILD auf der anderen Seite wird in dieser Woche größtenteils über Twitter ausgefochten. Die zitierten Forscher distanzierten sich in Echtzeit ausdrücklich und massiv von Artikel und journalistischem Vorgehen der BILD. Sie versichern, niemals eine Diskreditierung der Studie oder gar des Virologen Christian Drosten im Sinn gehabt zu haben. Der deutsche Ökonom Jörg Stoye, der an der Cornell-Universität in Ithaca, USA, Statistik lehrt, nennt Drosten im SPIEGEL-Interview sogar einen „Gigant der Virologie“. Drosten selbst bestätigt ganz offen die detektierten statistischen Schwächen seiner Studie und erklärt, dass viele gute Vorschläge inzwischen in die Studie eingeflossen seien. Das Ergebnis und die ursprüngliche Aussage seien dadurch sogar noch erhärtet worden. Eine Aussage, um die es in diesem Streit im Speziellen geht, lautet „children may be as infectious as adults“. Daraus hatte die BILD kurzerhand ein: „Kinder können genauso ansteckend sein wie Erwachsene“ gemacht. Wenn man aus einem Konjunktiv einen Indikativ macht, ändert das doch einiges. Finde ich. Trotz all dem legt die BILD am heutigen Dienstag sogar noch nach: „Schulen und Kitas wegen falscher Studie dicht“. Diese Schlagzeile ist letztlich durch nichts gedeckt. Niente. Nada. Nothing. Entsprechend finden sich im zugehörigen Text auch keine Belege, sondern die Headline wird lediglich nochmals als (unbeantwortete) Frage formuliert. Das sollte nicht einmal der Boulevardjournalismus machen. Laut UNESCO waren und sind übrigens fast überall auf der Welt die Schulen und Kitas geschlossen. OMG! Basis für eine neue Verschwörungstheorie? Ist Drosten der neue Gates? Da fällt mir ein, Learning No. 6: „Lieber glaube ich Wissenschaftlern, die sich mal irren, als Irren, die glauben sie seien Wissenschaftler.“ Aber OK, das wusste ich schon.
In diesem Sinne, sprecht miteinander, nicht übereinander.
Euer Jörg
Jörg Kunz ist promovierter Biologe und PR-Experte mit vielen Jahren Erfahrung in Agentur und Industrie sowie in Expertenorganisationen wie Krankenhaus oder Hochschule. In seinen Blogbeiträgen wirft er einen persönlichen Blick auf aktuelle Ereignisse und betrachtet diese aus der Sicht der Kommunikation bzw. im speziellen aus Sicht der Wissenschaftskommunikation.