Wer hat nun eigentlich den Aluhut auf? Diejenigen, die COVID-19 für eine ernsthafte Gefahr halten, diejenigen, die COVID-19 für ne mittelschwere Grippe halten oder diejenigen, die hinter all dem vor allem das Wirken dunkler Mächte bzw. schillernder Persönlichkeiten erkennen. Krass ist das, aber auch interessant. Und es gibt ja nicht wenige, die einen Attila Hildmann richtig abfeiern, sogar eine Art männliche Kassandra in ihm sehen. Er selbst glaubt, deshalb jederzeit einen Kopfschuss bekommen zu können und ist „bereit, für dieses Land zu sterben.“ Was geht ab, in Leuten, die… Naja, irgendwie „einen Schuss haben“?
Checker und Faktenchecker
Die Sache mit Corona ist doch klar: Bill Gates hat Jahre lang vor einer Pandemie gewarnt, der Kerl wusste also was. Sein Vater wiederum war Vorstand von Planned Parenthood. Eine Gründerin dieser NGO, die sich unter anderem für das Recht auf Abtreibung einsetzt, ist Margret Sanger. In den USA gilt die Frau als Eugenikerin. Dies alles zusammengepackt mit einer der zehn Regeln der geheimnisumwitterten Georgia Guidestone[1] ergibt ein eindeutiges Bild über Gates Sozialisierung, seine zentrale Rolle in dieser globalen Verschwörung und seine Intention: Der Mann will die Menschheit von aktuell sieben Milliarden auf etwa 500 Millionen reduzieren. Und dabei bedient er sich – genau: des Corona Virus. Soweit die kurz zusammengefasste „Beweisführung“ von Hildmann. Das spannende dabei: Verschwörungstheorien sind keine Gespinste, die sich aus dem Nichts in den Köpfen verwirrter Menschen entwickeln. Hildmann war vor seiner Zeit als Retter des Abendlandes ein durchaus erfolgreicher Geschäftsmann. Verschwörungstheoretiker benutzen ihren Verstand. Sie bauen eine eigene Logik und (vermeintlich) stringente Kausalketten rund um ihre Themen auf. Sie sind die wahren und einzigen Checker der komplexen Wirklichkeit, nicht die anderen – um kurz auf die anfangs gestellte Frage nach dem Aluhut zurückzukommen. Einem Faktencheck allerdings halten die Konstrukte in der Regel nicht lange stand. Gemein, aber das ist ja egal. „Ihr wollt doch immer, dass alle mitdiskutieren“, meint Hildmann in der ZEIT, „und jetzt ist es falsch, wenn ich was sage?“ Äh, ja!?
Kinder der Aufklärung
Verschwörungstheoretiker tauchen in die unendlichen Tiefen des Internets und recherchieren oft bis zur Erschöpfung. Sie hinterfragen Dinge, sind grundsätzlich kritisch eingestellt und wollen den Mächtigen auf die Finger schauen. Sie sind, wie die ZEIT es ausdrückte: „Kinder der Aufklärung“. Und fast immer berufen sie sich auch auf Wissenschaftler und verwenden deren Argumente. Eine Ikone und YouTube-Star in Sachen Corona ist beispielweise Prof. Dr. Sucharit Bhakdi, der mehr als zwei Jahrzehnte das Institut für Medizinische Mikrobiologie und Hygiene an der Uni Mainz geleitet hat. Er zweifelt die Zahlen des RKI und der Bundesregierung grundsätzlich an. Der 73-Jährige will dabei nicht als Verschwörungstheoretiker gelten, aber über die Motivation einer solchen Desinformation sagt er nichts. Ausschließen kann man seiner Meinung nach jedoch nichts. Der Sinsheimer HNO-Arzt Bodo Schiffmann fährt ebenfalls unter der Wissenschaftsflagge und hat mit der Bewegung „Widerstand2020“ sogar eine Partei gegründet. Nun gut, auch eine Art von Wissenschaftskommunikation – oder zumindest eine, die von (Ex/Pseudo-)Wissenschaftlern kommt. Die Ära der „verrückten Wissenschaftler“ begann übrigens mit dem atomaren Wettrüsten nach dem 2. Weltkrieg. Zeiten von großer Angst und Verunsicherung. Unvergessen Stanley Kubrick‘s Meisterwerk „Dr. Seltsam, und wie ich lernte, die Bombe zu lieben“.
Ordnung in der Punktewüste
Nichts scheint schlimmer, als eine Situation mit Kontrollverlust, eine Situation ohne Ordnung. Die Wirtschaftswissenschaftler Jennifer Whitson und Adam Galinsky haben dazu 2008 Erstaunliches in Science publiziert[2]. Man kennt ja die Bilder, die nur aus weißen und schwarzen Punkten bestehen. Bei genauem Hinsehen kann man darin Objekte erkennen – oder auch nicht. Ein Boot, einen Sessel. Im Experiment wurde ein Teil der Probanden durch unsinnige Testaufgaben verunsichert und verwirrt. Während die Kontrollkohorte tatsächlich nur dort Objekte erkannte, wo auch welche waren, glaubten die „Verwirrten“ sogar in der Punktewüste Sujets erkennen zu können. Fazit der Studie: Ist der Kontrollverlust groß, wird auch da eine Ordnung geschaffen, wo keine ist. Hauptsache Ordnung. Der ideale Nährboden also für Verschwörungstheorien. Egal, wie unsinnig sie sind. Das gilt übrigens auch für die politische Agitation. Siehe USA. Man schafft ein Gefühl großer Unsicherheit und bietet simple Lösungen an. That’s it. Dabei sind natürlich Massenmedien und ganz besonders die sogenannten Sozialen Medien genau die richtige Welle, auf der alle kommunikativ surfen. Vor allem die, die alles besser wissen. Sie nutzen das Chaos. Für die Wissenschaft hingegen gilt: weiterkommunizieren, faktenbasiert und ehrlich, das Chaos erklären. Auch wenn dabei ein Risiko immer bleibt. Der scheidende Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, hat das kürzlich in einem Interview treffend formuliert: „Gegen Applaus von falscher Seite ist man nie gefeit.“
In diesem Sinne, sprecht miteinander, nicht übereinander.
Euer Jörg
Jörg Kunz ist promovierter Biologe und PR-Experte mit vielen Jahren Erfahrung in Agentur und Industrie sowie in Expertenorganisationen wie Krankenhaus oder Hochschule. In seinen Blogbeiträgen wirft er einen persönlichen Blick auf aktuelle Ereignisse und betrachtet diese aus der Sicht der Kommunikation bzw. im speziellen aus Sicht der Wissenschaftskommunikation.
Quellen:
[1] https://www.forschung-und-wissen.de/magazin/das-mysterium-der-georgia-guidestones-13371985
[2] https://science.sciencemag.org/content/322/5898/115