Das Forschungsinstitut für Philosophie Hannover (FIPH) hat Mitte des Jahres eine interessante Arbeit publiziert. Titel: »Corona – Antworten auf eine kulturelle Herausforderung«[1]. Besonders spannend aus meiner Sicht die Beleuchtung des Wechselspiels von Politik und Wissenschaft. Und die damit verbundenen Fallstricke, Versuchungen und Gefahren.
Eins gleich vorne weg: Den in unserer Gesellschaft so mächtigen politischen Meinungs- und Entscheidungsbildner Wirtschaft lassen wir an dieser Stelle mal außen vor. Aus Gründen der Vereinfachung. Und, weil ich auf einen anderen systemischen Konflikt hinaus will. Corona-Pandemie, das bedeutet: Es geht unübersehbar um Leben und Tod. Wissenschaft forscht und kommuniziert über neue Erkenntnisse zu Epidemiologie, Virologie, Pharmazie. Die Ergebnisse dienen der Politik, unterschiedliche Optionen abzuwägen und Entscheidungen zu treffen. Diese haben sich nach unser aller Verständnis am Gemeinwohl der Gesellschaft zu orientieren. So weit, so gut. Aber dieses Wechselspiel braucht die richtige Balance, die in Krisenzeiten leicht verloren gehen kann. Mit all seinen cross-medialen Folgewirkungen. Die Autoren der genannten Arbeit sprechen von einer „Versuchung“, der jede der beiden Seiten erliegen könnte. Nummer eins, die Politik instrumentalisiert die Wissenschaft, in dem sie sich auf „harte“ Forschungsergebnisse beruft und Entscheidungen trifft, die einer demokratischen und freiheitlichen Grundordnung widersprechen. Die mehr oder weniger starken Einschränkungen der persönlichen Freiheit dürften da an oberster Stelle rangieren. Da die (wissenschaftliche) Faktenlage (vermeintlich) eindeutig ist, wird nicht debattiert.
Eine Willensbildung entfällt, die Wissenschaft wird – worst case – zur (Vollstreckerin, Helfershelferin, etc.) einer Ideologie. Siehe China und Hongkong. Andersherum, aus der umgekehrten, der technokratischen Perspektive, besitzt in solch einer prekären Situation auch die Wissenschaft die Möglichkeit, aktiv Politik in ihrem Sinne zu machen. Die Politik als Vollzugsorgan der alternativlosen Technik. Auch nicht schön.
Nur um das klar zu stellen: ich denke, wir haben es (bisher) ganz ordentlich hinbekommen mit COVID19. Die Politik, wie auch die Wissenschaft. Obigen Versuchungen sind wir in Deutschland meines Erachtens nicht erlegen. Das sehen aber natürlich nicht alle so. Worauf es mir viel mehr ankommt, ist, sich als Wissenschaftlerin und Wissenschaftler immer wieder bewusst zu machen, welche Verantwortung man trägt. Mit dem, woran man forscht, mit dem, was man als Ergebnis erarbeitet und mit dem, was man nach außen kommuniziert – und wie man das tut. Das charakteristische an der Corona-Pandemie ist, dass sie aufgrund ihrer massiven Auswirkung viele solcher Interessens- und Konfliktfelder offenlegt. Wenn wir als etablierte und renommierte Einrichtung für Angewandte Forschung heute sagen, Künstliche Intelligenz, Internet of Things, eMobilität, das ist die Zukunft, dann kann das bestimmten politischen Strömungen Rückenwind geben, es kann von radikalen Kräften instrumentalisiert werden, es kann wichtige Veränderungen anstoßen, es kann in den Sozialen Medien missbraucht werden, es kann von der Gesellschaft angenommen werden, es kann als Nudging und Manipulation diskreditiert werden. Alles ist drin, zwischen den beiden Polen der Versuchung.
In diesem Sinne, sprecht miteinander, nicht übereinander.
Euer Jörg
Jörg Kunz ist promovierter Biologe und PR-Experte mit vielen Jahren Erfahrung in Agentur und Industrie sowie in Expertenorganisationen wie Krankenhaus oder Hochschule. In seinen Blogbeiträgen wirft er einen persönlichen Blick auf aktuelle Ereignisse und betrachtet diese aus der Sicht der Kommunikation bzw. im speziellen aus Sicht der Wissenschaftskommunikation.
Quellen:
[1] https://fiph.de/veroeffentlichungen/buecher/Corona_FIPH.pdf?m=1592484286&