64 Prozent der Deutschen würden gerne mal einem Wissenschaftler bei der Arbeit über die Schulter schauen. Oder einer Wissenschaftlerin. Sagt das Wissenschaftsbarometer 2019.[1] Jetzt ist dies in Sachen Corona möglich. Zumindest indirekt. Die Lektionen, die wir alle bekommen, sind interessant. Und bisweilen frustrierend. Aber OK, schauen wir der Wissenschaft mal ein bisschen über die Schulter.
Wir alle wünschen uns klare, eindeutige Antworten auf zum Teil existenziellen Fragen im Corona Lockdown. Wie geht es weiter und wann? Unter welchen Bedingungen? Solche Antworten kann in einer Demokratie nur die Politik geben. Die wiederum ist in diesem Fall ganz besonders auf die Empfehlungen und Ratschläge der Wissenschaft angewiesen. Eigentlich auch in anderen Fällen, wie etwa dem Klimawandel, aber da halt (noch) nicht so unmittelbar, also lassen wir das an dieser Stelle mal außen vor. Genau hier beginnt jedenfalls das Kommunikationsproblem.
LEKTION 1: Die Forschung kann oft keine einfachen Antworten geben.
Heißt: Die Lockerungsregelungen vom 15. April – so enttäuschend sie für viele eh schon sein mögen –beruhen auf der jetzigen Faktenlage. In zwei Wochen schaut es möglicherweise ganz anders aus. Vielleicht besser, vielleicht auch wieder schlechter. Wir wissen es nicht. Verlässliche Meilensteine, die wir so sehr ersehen und an denen wir uns entlanghangeln können, gibt es de facto nicht. Interessant die Aussage von SPD Gesundheitsexperte Karl Lauterbach, der im Talk bei Markus Lanz (15. April) meinte, man könne nun nicht Politik wie sonst üblich machen. Mit Ansagen, an denen man dann auch festhalten werde. Warum nicht? Na, weil die Wissenschaft unser einzig sinnvoller Berater ist, aber die hat eben die immer und überall eingeforderte Planungssicherheit nicht im Angebot. Die Sache ist komplex.
Zu Beginn der Pandemie hat die Medizin ihren Fokus voll auf den Ausbau von Beatmungsplätzen gelegt. Im worst case sollten möglichst alle COVID-19 Fälle optimal behandelt werden können. Heute, sechs Wochen später, gibt es erste klinische Anzeichen, dass eine invasive Beatmung von COVID-19 Patienten bei schweren Fällen zum Teil gar nichts bringt, dass sie manchmal sogar kontraindiziert ist und die Lage der Patienten verschlimmert und dass sie gegebenenfalls bei Genesung von COVID-19 zu gravierenden gesundheitlichen Nebenwirkungen führen kann. Tja, trail and error.
LEKTION 2: Panta rhei. Alles fließt, in der Forschung.
Heißt: Die Antworten der Wissenschaft beruhen stets auf den aktuellen Ergebnissen der Forschung sowie auf der jeweils verfügbaren Datenlage. Und die ist gerade ziemlich dünn. Panta rhei bedeutet also nicht wie in der Politik oft üblich: „Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern.“ Annahmen und Ausgangssituationen ändern sich kontinuierlich. Sie werden durch neue Erkenntnisse bestätigt, modifiziert oder ad absurdum geführt. Wissenschaft ist kein gerader Weg. Die Arbeit in einem Labor ist meist frustrierend. Das kann ich aus persönlicher Erfahrung bestätigen.
Die inzwischen berühmt gewordene Gangelt-Studie[2] des Bonner Virologen Hendrik Streeck hat für enormes Aussehen und noch größere Aufregung gesorgt. Sie deutet auf eine – im Vergleich zu dem, was wir in Italien, Spanien, Frankreich oder den USA sehen – geradezu absurd niedrige Sterberate von „nur“ 0,37 Prozent hin. Selbst für Deutschland weist die Johns Hopkins University mit 1,98 Prozent eine fünfmal höhere COVID-19 Letalität aus. Ein Wissenschaftskommunikationskonflikt lag da quasi auf dem Präsentierteller. Und so wurde des Abends auch mit großer Sensationsvorfreude der Clash of Scientists bei Maybritt Illner erwartet. Denn was könnte schöner sein, als wenn die Gladiatoren unserer Tage endlich auf einander losgelassen werden können. Aber Wissenschaft ist eben keine Politik und auch keine Show. Charitè-Virologe Drosten (Notiz am Rande: „Der Virologe mit den sinnlichen Lippen“ wie die SZ am 25. März feststellte. Haha. Ist das noch Qualitätsjournalismus oder schon Boulevard?) blieb wie immer maximal souverän. Er bezeichnete die Studie Streecks als „extrem solide und robust“. Die Show blieb aus. Der Mann kann mit Widersprüchen umgehen – keine Frage. Chapeau.
LEKTION 3: Wissenschaft kann widersprüchlich sein.
Heißt: Es ist nicht so, dass das eine oder das andere unwahr und Fake ist. Die Grundvoraussetzungen, die Parameter, die wir zum Teil noch gar nicht können sind eben unterschiedlich. Das verunsichert Menschen, die eine nachvollziehbare, aber halt auch falsche Erwartungshaltung an die Wissenschaft haben, dass diese nämlich ad hoc die richtigen und verlässlichen Ergebnisse liefert. Je nachdem, welchen laufenden Studien man derzeit folgt, wird die Gesamtletalität am Ende keine signifikante Veränderung gegenüber 2019 ausweisen. Oder sie wird durch die Decke gehen. Ersteres wäre zu hoffen und wünschen. Dazu passend ein Fun Fact aus der HEUTE Show vom 17. April. Drosten vergleicht im Interview eine Pandemie mit einer Naturkatastrophe in Zeitlupe. Es folgt ein zweiter Einspieler mit Virologe Alexander Kekulé: „Ich höre immer, dass die Leute eine Pandemie mit einer Naturkatastrophe in Zeitlupe vergleichen. Das ist totaler Unsinn. Eine Pandemie ist eine Explosion!“ Und Euer Lieblingsvirologe so? Damit sind wir bei der letzten Lektion, die mir gerade so einfällt. Es geht um die Zeit. Es hat nicht nur alles seine Zeit, es braucht auch alles seine Zeit. Viele Monate (Jahre?), bis wir einen Impfstoff oder ein Medikament haben werden. Viele Wochen, bis wir Wachstumskurven, Sterberaten und Genesenenzahlen verlässlich einordnen und interpretieren können. Viel Zeit, bis wir die Komplexität dieser Pandemie auf allen wissenschaftlichen Ebenen erfasst haben und sie erfolgreich bekämpfen können. Das sind wir nicht gewohnt. Schneller, höher, weiter – das ist unsere Maxime. Mit Ungewissheit können wir nicht (mehr) umgehen. Es muss schnell gehen. Auch da zeigt uns also die Wissenschaft mit den ihr eigenen Grenzen die unseren auf.
LEKTION 4: Wissenschaft braucht Geduld.
Und davon viel. Aber: Geduld bring bekanntlich Rosen. Bleiben wir also demütig und positiv.
In diesem Sinne, sprecht miteinander, nicht übereinander.
Euer Jörg
Jörg Kunz ist promovierter Biologe und PR-Experte mit vielen Jahren Erfahrung in Agentur und Industrie sowie in Expertenorganisationen wie Krankenhaus oder Hochschule. In seinen Blogbeiträgen wirft er einen persönlichen Blick auf aktuelle Ereignisse und betrachtet diese aus der Sicht der Kommunikation bzw. im speziellen aus Sicht der Wissenschaftskommunikation.
Quellen:
[1] https://www.wissenschaft-im-dialog.de/projekte/wissenschaftsbarometer/wissenschaftsbarometer-2019
[2] https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/111867/Feldstudie-zu-SARS-CoV-2-Bei-15-Prozent-in-Gangelt-Infektion-nachgewiesen