Wer spricht schon gerne über’s Scheitern? So ziemlich genau keiner. Wait, stimmt nicht. Im April berichteten zehn US-amerikanische Psychologinnen und Psychologen in Perspectives on Psychological Science (Perspect Psychol Sci)[1] über Angst vorm Versagen, über Fehlschläge, über Burnouts. Wohlgemerkt nicht bei Ihren Patienten, sondern bei sich selbst. Bei sich, als Forschende in „der großen, gnadenlosen Welt der Wissenschaftler“, wie Carl Djerassi es einmal nannte. Dabei ist Trail and Error doch ein systemimmanentes Prinzip jeder wissenschaftlichen Arbeit. Scheitern ist in der Wissenschaft aber nicht nur Alltag, sondern anscheinend auch ein besonderes Tabu. Und das liegt wohl nicht nur am unbekanntem Terrain, auf dem man sich inhaltlich bewegt, sondern auch an den Mechanismen des Wissenschaftsbetriebs.
Leben im Ungewissen
In einem bereits 2010 in NATURE[2] erschienenem Text berichtet Prof. Melanie Stefan, heute Neurobiologin an der University of Edinburgh, ihr „Lebenslauf der Fehlschläge“ sei sechsmal so lange wie ihre offizielle Vita. „Deprimierend“, sei das, aber es erinnere sie an den eigentlichen Kern des Forscher-Daseins. Ehrlich gesagt, mich auch. Nun ist ja schon viele Jahre her, dass ich an der Laborbank stand und halbe Nächte im finsteren Bauch des Betonmonsters der Uni Regensburg verbrachte. Aber ich weiß noch, es gab sie, die Zeiten, an denen ich mein Leben zwischen Pipetten und Eppis, in Labors, Kühlräumen und unterirdischen Tierställen verflucht habe. Mit experimentellen Fehlversuchen – diese natürlich nicht zu knapp. Mit der Ambiguität auslaufender Verträge und möglicher Anschlussprojekte. Mit der ungewissen Zukunft des Wissenschaftlers – oder eben auch nicht? Da, wo ich gerade forsche oder vielleicht am anderen Ende der Welt? Aber dann kommt das nächste Paper oder ein Forschungsantrag geht endlich durch. Funkelnde Meilensteine zwischen zwei Durststrecken. Motivation. Weiter. Aber der Selbstzweifel bleibt eben.
Profis im Abgelehntwerden
Prof. Kate Sweeny, mehrfach ausgezeichnete Psychologin an der University of California, bezeichnet sich selbst im Artikel in Perspect Psychol Sci als „Profi im Abgelehntwerden“. Dies gelte für Publikationen wie auch für Bewerbungen. Tatsächlich stehen Wissenschaftler unter einem enormen Druck. Sie haben oft nicht nur unsichere Jobs, sondern unterliegen auch strengen Erfolgskriterien. Nicht selten leiden sie außerdem unter einem mangelhaften Personalmanagement. Prof. Dave Reay, Geowissenschaftler an der University of Edinburgh, erzählt an anderer Stelle in »Spektrum«:[3] „Ein Experiment nach dem anderen scheiterte. Jeden Morgen, wenn ich ins Labor kam, befanden sich in den großen Glasgefäßen milchige Spuren, ein unmissverständliches Zeichen für verunreinigte Substanzen. Wieder folgten Stunden des Wiegens, Zusammenmischens und Sterilisierens, während ich schamrot versuchte, die aufsteigende Angst zu unterdrücken; die Angst, eine Rüge zu bekommen, zu dumm zu sein. Die Angst, dass mir alle auf die Schliche kommen würden“. Ähnliche Gefühle dürften den meisten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern nicht fremd sein. Zumindest dann und wann.
Cantors Dilemma
Ich komme nochmal zurück auf den großartigen Naturwissenschaftler (BTW: Der „Vater der Anti-Baby Pille“ – wobei er selbst es besser fand, „Mutter der Pille“ genannt zu werden und genau so heißt auch seine Autobiographie) und hervorragenden Schriftsteller Carl Djerassi. Vor Jahren habe ich seinen Roman „Cantors Dilemma“ gelesen. Der Plot dreht sich um den Zellbiologen Isidore Cantor, der nachts beim Pinkeln auf eine geniale Hypothese zur Entstehung von Tumoren kommt. Nobelpreis-würdig ist Cantors Idee, klar. Deshalb muss es schnell gehen mit dem experimentellen Nachweis und einer Publikation. Am besten ein Paukenschlag ohne endloses Peer-Reviewing. Aber: „In der Krebsforschung entspricht eine allgemeingültige Theorie der Tumorentstehung dem Mount Everest oder dem K-2. Solche Berge besteigen nur Superstars, und selbst sie benutzen Sherpas.“ Cantors Sherpa heißt Jerry Stafford. Und obwohl brillant als Wissenschaftler, ist er gehörig unter Druck. Als die Zeit knapp wird, beginnt Assistent Stafford in seinen Laborjournalen die Ergebnisse zu manipulieren. Cantor ahnt das, aber deshalb auf den Nobelpreis verzichten? Und sich vor den ungeliebten wissenschaftlichen Konkurrenten blamieren? Dann lieber peinlich berührt den Preis annehmen. Gewissensbisse inklusive. Immerhin. »Der Spiegel« rezensierte seinerzeit: „Djerassis Komödie akademischer Eitelkeiten wirft einerseits ein Licht auf die Grauzone der Manipulation und Nachbesserung scheinbar objektiver Daten, sie liefert aber auch die genaue Beschreibung eines rücksichtslosen wissenschaftlichen Karrierismus.“ Und die »New York Times« fand: „This novel's rendering of the scientific establishment is so precise that anyone considering a career in science should be required to read it.” Also: Lesen!
In diesem Sinne, sprecht miteinander, nicht übereinander.
Euer Jörg
Jörg Kunz ist promovierter Biologe und PR-Experte mit vielen Jahren Erfahrung in Agentur und Industrie sowie in Expertenorganisationen wie Krankenhaus oder Hochschule. In seinen Blogbeiträgen wirft er einen persönlichen Blick auf aktuelle Ereignisse und betrachtet diese aus der Sicht der Kommunikation bzw. im speziellen aus Sicht der Wissenschaftskommunikation.
Quellen:
[1] https://journals.sagepub.com/doi/abs/10.1177/1745691619898848
[2] https://www.nature.com/articles/nj7322-467a
[3] https://www.spektrum.de/news/du-bist-nicht-allein/1581360