Corona, Woche Nummer drei. Oder vier? Lock-Buch, Eintrag vom 8. April. Das Virus hat uns eingesperrt. Wir verharren in einer Filterblase – jetzt hatte ich tatsächlich, Freud lässt grüßen, zuerst Folterblase geschrieben – der besonderen Art. Und, da Kriegsvokabular gerade so en vogue ist, das gnadenlose Corona-Sperrfeuer der Medien prasselt unaufhörlich auf uns ein: „Wegen Überlänge dieses »Corona Spezial Extra« verschieben sich die drei nachfolgenden Corona Sondersendungen um jeweils ca. 10 Minuten.“ Ich. Kann. Nicht. Mehr.
Die Nerven liegen blank
Was das Virus mit uns macht, ist das eine, es heißt COVID-19. Schlimm genug. Was der mediale Overkill mit uns macht, ist das andere. Beim Laufen werde ich einmal von einer Radlerin angeblafft, weil ich mich auf dem Gehweg nicht scharf rechts bewege (und so in ihren Augen ein unberechenbares Ansteckungsrisiko darstelle), ein anderes Mal rotzt mir eine Walkerin ein unfreundliches „Scheiß-Jogger“ hinterher. Meine Reaktionen? Naja, ganz ehrlich, von Entschleunigung keine Spur. Während Zukunftsforscher und Philosophen bereits im rosaroten Utopia der Post-Corona-Zeit schwelgen, zeigt das aktuelle Dystopia seltsame Gesichter. Irgendwo zwischen unbekümmerter Lässigkeit („Corona-Party“) und Paranoia (08/15 Mundschutz, unsteril, auf dem Fahrrad plus Dieselhandschuhe). Kein Wunder, finde ich. Wenn man wirklich nur noch ein Thema kennt! Die Verunsicherung trägt Früchte. #Zusammenhalt gilt wohl doch nur für die, mit denen man auch sonst so um’s Feuer sitzt. Sei‘s drum. Genau die fehlen jetzt vor allem. Wie gern möchte man das endlos viele Gruselige, das einem in der Zeitung, im TV, im Web täglich aufgedrängt wird, mit Freunden und Kollegen – inklusive der weiblichen Pendants, natürlich – diskutieren, verifizieren und manchmal auch einfach nur relativieren.
In den Medien verlässt das Corona-Narrativ gerade die heillos überfüllte Intensivstation, die es in Deutschland gar nicht gegeben hat. Dafür aber rufen beim Berliner Corona-Telefon täglich 5.000 Menschen an. Was sie treibt, ist die Angst im Falle einer schweren Infektion in einem überforderten Krankenhaus aussortiert zu werden. Zum Sterben. Das haben wir mit großem Bedauern in Italien und Spanien gesehen, aber davon war und ist Deutschland weit entfernt. Suggeriert wurde vielfach ein anderes Bild. Horror sells. Erst recht in einer Gesellschaft, die sich zunehmend via Social Media informiert und dort in hohem Maße Clickbait Überschriften konsumiert. Jetzt macht sich die Geschichte eher banal in unserem Alltag breit. Der Frame von der tödlichen Infektion ist immer und überall. Von Menschen lese ich, die nie mehr ohne Vorbehalte eine Türklinke werden drücken können. Oder im Supermarkt einen Apfel in die Hand nehmen. Von solchen, die ihre Kinder nicht mehr ohne Angst in die Schule schicken können. Die ntv App fragt: „Ist das Coronavirus durch Sex übertragbar?“ (nicht wenn man den Mindestabstand einhält, würde ich sagen) und gerade eben will der Journalist im abendlichen ARD-Corona-Extra wissen, ob man jemanden, der einem beim Spaziergang entgegenkommt, grüßen darf oder ob man nur winken soll. „Grüßen ist nicht kritisch“ antwortet der Experte mit gebotener Ernsthaftigkeit. Absurdistan, 20:25 Uhr. Wo ist die Grenze zwischen sinnvoller Aufklärung und Panikmache? Werden wir zukünftig tatsächlich stets eine Risikoabwägung machen, wenn wir jemanden, der nicht zur Familie gehört, umarmen? Kommt nach Corona die ganz große Paranoia? Wer steckt hinter der Maske, die wir paradoxerweise nach Lockerung der aktuellen Maßnahmen im Supermarkt tragen müssen – jetzt aber nicht? Wer außer dem DHL-Mann hatte wohl das Päckchen in der Hand und hat dort seinen viralen Fingerabdruck hinterlassen? Ab ins Bad, Hände waschen! Die nackten Zahlen und die nüchternen Berichte der Wissenschaftler haben sich auf dem langen Weg von Anfang März bis heute abgenutzt. Dabei sind sie nach wie vor die wichtigsten News. Jetzt geht es aber nicht mehr um das, was Drosten sagt, sondern ob Drosten gar Kanzler sein sollte. Ein Klassiker. Die Heldengeschichte schiebt sich vor die Sache, Personenkult ersetzt Veranschaulichung. Dazu haben Spekulationen wie auch düstere Worst Case Szenarien zunehmend Konjunktur. Und wie prophezeit die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, in der ZEIT von heute: „Das nächste Virus wird kommen, das ist sicher.“ Na dann, Virus for ever.
In diesem Sinne, sprecht miteinander, nicht übereinander.
Euer Jörg
Jörg Kunz ist promovierter Biologe und PR-Experte mit vielen Jahren Erfahrung in Agentur und Industrie sowie in Expertenorganisationen wie Krankenhaus oder Hochschule. In seinen Blogbeiträgen wirft er einen persönlichen Blick auf aktuelle Ereignisse und betrachtet diese aus der Sicht der Kommunikation bzw. im speziellen aus Sicht der Wissenschaftskommunikation.
Quelle:
[1] lab.laesser.net/coronazeit