Die gelben Lettern lassen kaum einen Blick entkommen. Und so bleibt auch meiner an der gelb-weißen Headline förmlich kleben. Da steht es: Jetzt gibt die Wissenschaft uns den Rest. Abrechnung! Was zunächst wie ein Fanal aussieht, ist hingegen längst nicht das Ende. Bestenfalls der Anfang davon. Die Nationale Wissenschaftsakademie »Leopoldina« hat ihre inzwischen dritte Ad-hoc-Stellungnahme publiziert. Die BILD hat was daraus gemacht. Nur was?
Schon erstaunlich, wie der Boulevard ein Papier mit dem eher nüchternen Titel „Coronavirus-Pandemie – Die Krise nachhaltig überwinden“[1] so krass »übersetzt«. Die interdisziplinäre Wissenschaftsgruppe der Leopoldina berät die Politik – keinesfalls, wie die BILD suggeriert, Kanzlerin Angela Merkel exklusiv – bei ihren Entscheidungen zum Umgang mit der Corona-Pandemie. Am 13. April hat sie Empfehlungen (keine Forderungen) veröffentlicht, wie der Anfang einer Exit-Strategie aussehen könnte. Dass dies in der BILD als »Abrechnung« daherkommt, ist schon reichlich skurril. Jetzt könnte man natürlich unterstellen, dass ich nur die Überschrift gelesen habe. Stimmt sogar. Aber es gibt eben Zeitungen, da bieten die (spärlichen) Texte in der Regel keinen weiteren Mehrwert. Mir stellen sich eher die Fragen: „Wer rechnet hier mit wem ab?“ und „Was macht das mit den Lesern?“
Ohne Wissenschaftskommunikation wären wir »lost« gewesen. Ein Christian Drosten hat inzwischen ja die Popularität, die in der hedonistischen Prä-Corona-Zeit sonst nur eher mehr als weniger überflüssige Influenzer erreichten. Dem US-Virologen Anthony Stephen Fauci ist es sogar gelungen, einen der größten Narzissten aller Zeiten einzubremsen. Bisher jedenfalls. Immerhin führt unsere hiesige Medienlandschaft – egal, welche Heads sie auch verwendet – nicht zu Morddrohungen gegenüber Wissenschaftlern. Jenseits des Atlantiks sieht das ja erschreckender Weise anders aus. Was mir nach den vielen Corona Wochen außerdem auffällt, ist das hier: In den Sozialen Medien ist die Zahl der (vermeintlichen) Virologen und Epidemiologien sprunghaft – man möchte fast sagen: exponentiell – angewachsen. Auch dies hat eben jene Publikation der Leopoldina exemplarisch gezeigt. Die Foren sind voll mit wilden Diskussionen und Hinz + Kunz widersprechen durchaus vehement den Wissenschaftlern, die sich nun für eine vorsichtige Öffnung aussprechen. Jetzt hat plötzlich jeder seinen Lieblingsvirologen (einen Starschnitt in der Bravo gibt es meines Wissens noch nicht). Diese werden mit reichlich Verve gegeneinander ins Feld geführt. Plus natürlich der eigenen naturwissenschaftlichen Kompetenz, die man in den letzten vier Wochen selbstredend erworben hat. In der berühmten YouTube-Universität. Klassischer Fall von Kruger-Dunning-Effekt. Der Originaltitel des Papers[2] von 1999 hat an Aktualität nichts verloren: »How Difficulties in Recognizing One's Own Incompetence Lead to Inflated Self-Assessments«. Naja, da sind die von mir mit Interesse beobachteten Facebooker und Twitterer nicht alleine. Siehe #45.
Meine Fragen bleiben offen. Ich denke, kein Wissenschaftler will mit wem auch immer abrechnen. Nicht mit der Politik und nicht mit uns. Nicht mal mit dem Virus. Dem wäre das auch egal. Bleibt zu hoffen, dass auch die Konsumenten von Massenmedien die Dinge richtig einordnen können und werden. Um Abrechnung geht es nicht. Definitiv. Die Wissenschaft bleibt sich weiter treu. Sachlich, faktisch und natürlich auch kontrovers. In diesem Sinne, sprecht miteinander, nicht übereinander.
Euer Jörg
Jörg Kunz ist promovierter Biologe und PR-Experte mit vielen Jahren Erfahrung in Agentur und Industrie sowie in Expertenorganisationen wie Krankenhaus oder Hochschule. In seinen Blogbeiträgen wirft er einen persönlichen Blick auf aktuelle Ereignisse und betrachtet diese aus der Sicht der Kommunikation bzw. im speziellen aus Sicht der Wissenschaftskommunikation.
Quellen:
[1] www.leopoldina.org/publikationen/detailansicht/publication/coronavirus-pandemie-die-krise-nachhaltig-ueberwinden-13-april-2020
[2] citeseerx.ist.psu.edu/viewdoc/download?doi=10.1.1.64.2655&rep=rep1&type=pdf