Kennt jemand von euch ein Buzzword, das in der Wirtschaft häufiger missbraucht wird als »Innovation«? Na gut, lassen wir mal die Diskussion beiseite, ob wir von einer schlichten Verbesserung als Innovation sprechen oder von etwas echt Neuem. Denn am Ende geht es immerhin in beiden Fällen um Fortschritt. Aber was ist das eigentlich, Fortschritt? Jeff Kammerbacher, ehemaliger Datenchef von Facebook sagte mal: „Die hellsten Köpfe meiner Generation denken darüber nach, wie man Menschen dazu bringt, auf Anzeigen zu klicken. Das ist großer Mist.“ Finde ich auch, wenn ich genau drüber nachdenke. Und ihr so? Was treibt euch an, wenn ihr euch für ein Studium oder später für eine Promotion entscheidet? Ihr solltet Teil des Fortschritts sein. Echt jetzt!
Immer diese Nerds
Erst 2020 hat die deutsch-schweizerische Schriftstellerin Sybille Berg ihr viel beachtetes Buch »Nerds retten die Welt. Gespräche mit denen, die es wissen“ veröffentlicht. Ja klar, es sind Nerds (im positiven Sinne), die heute Autonomes Fahren, Additive Fertigung oder Künstliche Intelligenz entwickeln. Aber es waren natürlich auch früher Nerds (ebenfalls im positiven Sinne), die sich beispielsweise den Verbrennungsmotor, die Nutzung der Atomenergie oder Soziale Medien ausgedacht haben. Deren Folgen – Umweltverschmutzung, Atommüll, Radikalisierung – wir gerade durch neue Nerds mit neuen Ideen zu korrigieren versuchen. Fortschritt ist also eine komplexe Sache, wenn man ihn bis zum Ende denkt. Ihn sollte nämlich genau genommen nicht nur eine (zugegebenermaßen sehr schwierige) Technikfolgenabschätzung begleiten, sondern im Idealfall auch gleich eine mögliche Exitstrategie. Megakomplex, quasi. Mir gefällt die Fortschrittsdefinition, die Rafael Laguna de la Vera, Direktor der Bundesagentur für Sprunginnovationen, gibt. Fortschritt, sagt Laguna de la Vera, sei die Maximierung von Glück für die größtmögliche Zahl von Menschen. Und zwar niemals auf Kosten anderer. Trifft ja bei uns grade nicht so zu. Laguna de la Vera will in seiner Funktion mehr Neuem in die Welt helfen. Weil schließlich nur die Nerds die Welt retten können. Aber wie?
Innovation 2021: Hype, Täuschung, Wahn?
Als Home of the Nerds gilt ja stets das Silicon Valley. Tatsächlich gibt es jedoch zahlreiche Studien, die besagen, dass man in der südlichen San Francisco Bay Area schon seit rund zehn Jahren nicht eine einzige Innovation hervorgebracht hat, die obiger Definition gerecht wird. Die also das Leben vieler Menschen signifikant verbessert hat. Wie sophisticated ein neuer Cloud-Dienst auch sein mag, echte Weltbesserung ist er eben nicht. „Move fast and break things“ als unumstößliches Valley-Mantra für die ganze Welt? Die US-amerikanischen Technikhistoriker Lee Vinsel und Andrew Russell sehen das total anders. Ihr aktuelles Buch heißt »The Innovation Delusion«. „Wir leben in einer Ära der Scheininnovationen“, behaupten die beiden.
Naja, das ist nicht so einfach von der Hand zu weisen, wenn man es so sieht wie Laguna de la Vera: Was ist schon ein Hyper-Loop, den – falls er jemals an den Start geht – einige wenige nutzen werden, um von A nach B zu kommen, im Gegensatz zur Erfindung des Fahrrads. Eine Verbesserung für Milliarden von Menschen. Was ist schon eine Endoskopie-Pille im Vergleich mit Penizillin. Und was ein Sensor, der feinste Unebenheiten im Fahrzeuglack detektieren kann, wenn man diesem die Entdeckung der Röntgenstrahlen entgegenstellt. »Delusion« kann übrigens mit »Täuschung« übersetzt werden, aber eben auch mit »Wahnvorstellung«. Vielleicht sind die genannten Vergleiche nicht ganz fair, auch weil sie stark vereinfachen, aber darüber nachzudenken lohnt sich dennoch.
Breitband oder Flugtaxi?
Wenn wir an das denken, was den allermeisten von uns (wirklich) wichtig ist, also Gesundheit, Bildung und Infrastruktur, würden wir dann nicht eher für deren reibungslose und sich stetig verbessernde Funktion plädieren? Anstatt für Hyper Loops, private Raumfahrt oder urbane Flugtaxis? Hier stehen wir also an einer besonderen Bruchstelle. Zwischen Forschung und Gesellschaft. Denn das ist klar, ohne die Akzeptanz der Bevölkerung(en), die sich wiederum aus dem gesellschaftlichen bzw. persönlichen Nutzen nährt, landen auch die coolsten Innovationen auf dem (eh schon vollen) Friedhof der selbigen. Auch die Politik hat hier so ihre Schwierigkeiten. Anstatt beispielsweise zum mühseligen (ich könnte auch armseligen schreiben) Breitbandausbau Rede und Antwort zu stehen, wird lieber mit einem Moonshot-Projekt wie Flugtaxis angegeben. So geschehen in einem Interview von ZDF-Moderatorin Marietta Slomka und Dorothee Bär, Digitalbeauftragte der Bundesregierung. Die Menschen, so Bär, sollten endlich groß denken. WTF. Die Menschen brauchen jetzt funktionierendes und schnelles Internet und keine verdammten Flugtaxis. Sorry, muss man ja mal sagen dürfen. In Corona-Zeiten fällt mir da natürlich direkt das Thema Digitalunterricht (Hallo, Mebis!) ein. Aber klar, solche Kommunikationstricksereien verfangen halt. Dazu Sascha Friesike, Professor für Gestaltung digitaler Innovationen an der Universität der Künste Berlin, in einem Brand Eins-Artikel: „Das regt sofort bei allen die Fantasie an. Und egal, ob die Leute das großartig oder blödsinnig finden: Sie sprechen zumindest in dem Moment nicht mehr über Breitband.“
Innovation und Exnovation
Zurück zum Thema Fortschritt. Am Berliner Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung (IZT) gehören zu den Zielen neuer Technologien nicht nur Wohlstand und Gerechtigkeit, sondern auch Verträglichkeit mit Umwelt und Ressourcen. Das ist radikal. Seit rund 200 Jahren steht technischer Fortschritt stets für Wirtschafts- und Konsumwachstum. Aber unser Planet funkt immer eindringlicher SOS. Das eine setzt dem anderen Grenzen. Frühere Innovationen haben uns inzwischen eine Menge Probleme eingebrockt. Die müssen wir lösen. Vermutlich geht das nicht in kleinen Schritten wie oben beschrieben bei Gesundheit, Bildung und Infrastruktur. Passende Exitstrategien für inzwischen obsolete Technologien liegen nicht in der Schublade. Es sind also doch wieder die Nerds mit ihren disruptiven Ideen gefragt. Aber diesmal vermutlich auch die Menschen, denen ein gewisser Verzicht abverlangt werden wird. Komfort darf nicht auf Kosten von Nachhaltigkeit gehen. Wie extrem schwer das ist und mit welchen gesellschaftlichen Verwerfungen dies einhergehen kann, das führt uns Corona gerade vor Augen. Mit Blick auf den Klimawandel fürchte mal so: Das Schwierigste kommt noch. Wir zählen wie immer auf die klugen Köpfe. Mit der notwendigen Empathie.
In diesem Sinne, sprecht miteinander, nicht übereinander.
Euer Jörg
Jörg Kunz ist promovierter Biologe und PR-Experte mit vielen Jahren Erfahrung in Agentur und Industrie sowie in Expertenorganisationen wie Krankenhaus oder Hochschule. In seinen Blogbeiträgen wirft er einen persönlichen Blick auf aktuelle Ereignisse und betrachtet diese aus der Sicht der Kommunikation bzw. im speziellen aus Sicht der Wissenschaftskommunikation.