Im Jahr 2017 erhöhte sich die Selbstmordrate in den USA um 29 Prozent bei den 10 bis 17jährigen. Grund dafür soll die bekannte Netflix-Serie „Tote Mädchen lügen nicht“ bzw. „13 reasons why“ gewesen sein. Wir sind uns zwar ziemlich sicher, dass alle den Plot kennen, aber für die, die hinter dem Mond leben, nochmal grob zusammengefasst: Gleich zu Anfang der Serie erfährt man, dass die Protagonistin und Highschool-Schülerin Hannah Baker Suizid begangen hat. In den folgenden Episoden gibt sie in Form von Kassetten an ihr Umfeld ihre Gründe dafür an. Und das ist ziemlich heftig.
Selbstmordrate und Serien
Die Wissenschaft hat dieses Phänomen der steigenden Suizidrate untersucht und ihm einen Namen gegeben: Werther-Effekt, nach dem bekannten Buch „Die Leiden des jungen Werthers“ von Goethe. Das kommt vielen bestimmt noch aus dem Deutsch-Unterricht bekannt vor. Der Werther-Effekt beschreibt den Zusammenhang zwischen steigender Suizidrate und der medialen Darstellung von Selbsttötung. Forschende konnten feststellen, dass die Suizidraten in der Bevölkerung nach Erscheinung einer solchen Serie oder eines derartigen Films, bei der ein Suizid dargestellt wurde, erheblich anstieg. Noch stärker ist dieser Effekt, wenn Leute sich mit dem Filmcharakter unmittelbar identifizieren. Beziehungsweise diesen als Vorbild wahrnehmen. So, wie es bei Hannah Baker der Fall ist, deren Zuschauer vor allem Jugendliche sind. Das bedeutet aber nicht, dass man über Suizid nicht sprechen sollte. Es gibt auch den Papageno-Effekt. Dieser besagt, dass es sogar wichtig ist, Suizidgedanken darzustellen. Man sollte dabei jedoch gleichzeitig Alternativen zur Bewältigung von schwerwiegenden Problemen aufzeigen. Denn werden Berichte zur Überwindung einer suizidalen Krise ausgestrahlt, hat dies erwiesenermaßen einen rückläufigen Effekt auf die Suizidrate.
Fakt ist, dass wir uns auch in Medien mit dem Thema Suizid beschäftigen müssen, um es in der gesamten Gesellschaft zu enttabuisieren. Wie über jede andere psychische Problematik sollten wir darüber sprechen und uns der Gefahr, der Warnzeichen und der Auswirkungen bewusst werden. Nur so können wir etwas dagegen unternehmen. Dabei sollten wir vor allem auf das „Wie“ der Darstellung achten. Oft wird Suizid als einzige oder beste Lösung dargestellt, um einer schwierigen Lebenssituation zu entkommen. Alternativen und Hilfsmöglichkeiten werden oft außer Acht gelassen oder als nutzlos abgebildet. Auch in „Tote Mädchen lügen nicht“ werden soziale Alltagsprobleme von Jugendlichen als aussichtslos dargestellt und immer wieder mit der Möglichkeit eines Suizids verknüpft.
Suizid als Sensation
Besonders problematisch ist unserer Meinung nach nicht vorrangig die Darstellung von Suizid, sondern die Entwicklung von Hannah Baker. Wie wird die Protagonistin dargestellt? Wie eingangs erwähnt, wird die Geschichte von Hannah Baker rückwirkend erzählt. Sie spielt also zu der Zeit, in der die Hauptfigur schon tot ist. Die ganze Schule spricht über sie, die Aufmerksamkeit und Anerkennung der Schülerinnen und Schüler ist ihr sicher. Auch in den Rückblicken wird Hannah als klug, selbstbewusst und hübsch inszeniert. Sie verkörpert also genau das Bild, dass jeder von uns gerne im Spiegel sehen würde. In der zweiten Staffel tritt die Protagonistin als Geist in Erscheinung, kann also das Verhalten ihrer Mitschüler und Mitschülerinnen beobachten und kommentieren. Die Selbsttötung der Hannah Baker bewirkt ein Empowerment, das eine gefährliche Schlussfolgerung zulässt: Suizid führt zu Beliebtheit und Anerkennung.
Die Darstellung der Figur und die Reaktion der Hinterbliebenen sind dabei im Hinblick auf die Botschaft der Serie fast bedenklicher als der Suizid selbst. Statt hier den Papageno-Effekt zu nutzen und den Zuschauern die Alternativen zur Selbsttötung zu zeigen, machten die Drehbuchautoren und -autorinnen Hannah und ihre Tat zur Sensation, über die noch lange berichtet wurde. Wir denken, dass dies junge Menschen vor allem in ihrer pubertären Phase stark triggern kann. Denn jetzt mal Hand aufs Herz, wer von uns hat sich gerade in diesem Alter nicht nach Anerkennung und Aufmerksamkeit gesehnt? So stark, dass man fast alles dafür getan hätte. Was "13 reasons why" hier zeigt, ist für einige ein ziemlich sicherer Weg, genau das zu erreichen. Aber was bringt Anerkennung, wenn ich tot bin? Eben!
Nicht ob, sondern wie
Suizid ist bei Menschen unter 25 die zweithäufigste Todesursache. „Tote Mädchen lügen nicht“ hat heftige Kritik für seine sehr extremen Szenen einstecken müssen. Vor allem die der Selbsttötung. Wir persönlich halten die Darstellung zwar im Sinne der Aufklärung und des Bewusst-machens für gerechtfertigt, jedoch sollten Triggerwarnungen zum Schutz von Minderjährigen oder psychisch labilen Personen direkt vor der entsprechenden Szene eingeführt werden. Außerdem sollte die Möglichkeit bestehen, die entsprechende Sequenz zu überspringen, wie das zum Beispiel auch bei den Intros der Fall ist. Nichtsdestotrotz trägt diese Serie wie viele andere Filme zur Enttabuisierung des Themas bei. Sie behandelt außerdem viele weitere Tabu-Themen wie Mobbing, sexuelle Belästigung und Vergewaltigung, und macht so deren Präsenz in unserer Welt und die damit verbundenen Konsequenzen nochmal richtig bewusst. Denn seien wir mal ehrlich, wenn sie uns nicht direkt betreffen, verdrängen wir diese Themen gerne. Serien wie diese, die eh jeder zweite von uns bingt, sind also eigentlich kein schlechter Weg, uns ab und an in Erinnerung zu rufen, dass es auf dieser Welt viele Dinge gibt, an denen wir durch ein bisschen Initiative vielleicht etwas ändern könnten. Bewusstsein ist dazu der erste Schritt. Letztlich geht es also nicht nur darum, ob, sondern wie das Thema Suizid für Jugendliche aufbereitet wird.
Hilfe ist richtig und wichtig
Es gibt verschiedene Merkmale, die für einen geplanten Suizid Anzeichen sein können. Beispielsweise verbale oder schriftliche Hinweise auf Todessehnsucht, Äußerungen von Sterbensgedanken, sowie die Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben und dem Tod. Außerdem gibt es noch losgelöste Merkmale wie den Rückzug von Freunden oder sonstigen Aktivitäten, Risikoverhalten, Hoffnungslosigkeit, Brüche im Verhalten, Selbstverletzung und vieles mehr. Wichtig ist, dass das Auftreten von einem Merkmal allein noch kein Hinweis auf einen Suizid darstellen muss. Gleichzeitig müssen aber auch nicht alle Merkmale erfüllt sein, damit eine suizidale Absicht vorliegt. Traue daher deinen Gefühlen und deiner Wahrnehmung, wenn du annimmst, in Kontakt mit einer suizidgefährdeten Person zu sein. Frag, ob er oder sie Gedanken hat, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Höre interessiert zu. Beziehe Stellung, ohne zu verurteilen oder zu bewerten und nimm vor allem die suizidalen Aussagen ernst. Handle also nicht so wie der Vertrauenslehrer von Hannah.
Ebenso wichtig ist außerdem, auf deine eigenen Grenzen der Belastbarkeit zu achten. Erlaube dir neben deinem Engagement auch etwas Zeit und vor allem Distanz für dich. Übernimm nur so viel Verantwortung, wie du auch tragen kannst, sonst ist keinem geholfen. Das Beste, was du tun kannst, ist die suizidgefährdete Person zu motivieren, sich durch Fachleute helfen zu lassen. Denn Suizidalität hat viele Ursachen.
Hinweis: Wenn du Suizidgedanken hast, mach es besser als Hannah Baker, sprich darüber mit jemandem. Du kannst dich rund um die Uhr an die Telefonseelsorge wenden (08 00/111 0 111 oder 08 00/111 0 222) oder www.telefonseelsorge.de besuchen.
Lucienne Münch und Yasmin Jacob
Yasmin Jacob und Lucienne Münch studieren beide seit 2020 angewandte Wirtschaftspsychologie an der THD. Nach Ihrem Abschluss beabsichtigt Yasmin Jacob, als Unternehmensberaterin in der Wirtschaft zu arbeiten. Lucienne Münch beabsichtigt es hingegen in einer Marketingabteilung Ihren Platz zu finden.