Entschleunigung! Das ist ein Wort, ein Gefühl, eine Wahrnehmung, die ich seit COVID-19 immer wieder höre. Sicherlich mag das für einen Teil der Bevölkerung zutreffen. Für mich nicht. Ich bin Papa von zwei kleinen Kindern und Hochschullehrer. Im Home Office, alles klar?
Methodenmix heißt Lernerfolg
Die Losung lautet jetzt: Virtualisierung. Dabei ist das bloße Aufnehmen der Vorlesung mit einer Smartphone-Kamera oder die „Live“-Vorlesung lediglich ein kleiner Bestandteil. Nur ein kreativer Mix von Formaten und Methoden führt zu positivem Lernerfolg bei den Studierenden. Und mehr Spaß macht es dann auch. Also ran an die Arbeit. Lernskripte, Videos, Audioaufnahmen, eBooks, Simulationen, Übungen, Quizze, adaptives Lernen, Forum, Virtual Classroom und vieles mehr für insgesamt sechs Vorlesungen. Audio-Aufnahmen kann ich mit meinem Headset machen, meinen Bildschirm kann ich mit spezieller Software einfach abfilmen, aber mich selbst? Schwierig. Das hätte ich nicht gedacht. Für die vernünftige Virtualisierung einer 90 Minuten-Vorlesung benötige ich im Schnitt sechs bis acht Stunden. Thematisch bedeutet die Virtualisierung im Studiengang Gesundheitsinformatik nicht nur die pure Adaption des bisherigen Präsenzunterrichts, sondern auch die Anlehnung des Stoffes an den aktuellen Pandemiefall im Bereich Statistik, Planung und Steuerung oder Mehrwert der Digitalisierung. Um da mal nur ein paar Dinge zu nennen.
Telemedizin in Zeiten der Pandemie
Gerade jetzt wird sichtbar, wie wertvoll eine flächendeckende telemedizinische Versorgung in Deutschland sein könnte. Während unser Gesundheitssystem sich fast ausschließlich auf die Behandlung von COVID-19 Patientinnen und Patienten konzentriert, werden andere medizinische Versorgungen auf ein Minimum reduziert. Telemedizinische Anwendungen könnten Sicherheit bieten. Zum Beispiel durch regelmäßige Temperatur- und Sauerstoffgehaltsmessung bei Sars-Cov-2-Infizierten unter remote-Beobachtung von medizinischem Personal. Erprobt wird beispielsweise die telemedizinische Behandlung von COVID-19 Patienten im Forschungsnetzwerk, das von Prof. Christian Drosten und Prof. Heyo Kroemer ins Leben gerufen und vom BMBF mit 150 Millionen Euro gefördert wird.
Junge Familie – Office dahaom
„Ja, das ist ein wunderschöner Osterhase. Du, Papa muss jetzt noch ein bisschen arbeiten und dann komme ich zu euch zum Spielen.“ Bitte entschuldigen Sie. In unserer Wohnung habe ich kein richtiges Büro und bin deshalb notdürftig im Schlafzimmer neben dem Wäscheständer sitzend am Arbeiten. Meine zwei kleinen Töchter (2 und 4 Jahre) schauen gefühlt alle 15 Minuten vorbei, um mir ihre neuesten Errungenschaften zu zeigen. Und natürlich, um mich daran zu erinnern, dass wir noch spielen wollten. Meiner Frau geht es auch nicht viel besser. In der aktuellen Berichterstattung fehlt mir der Fokus auf diese spezielle Klientel: junge Eltern mit zwei oder mehr Kindergartenkindern, die im Homeoffice arbeiten und sich gleichzeitig um ihre Kinder kümmern müssen. Im Gegensatz zu schulpflichtigen Kindern ist da eine „Rund-um-die-Uhr“-Betreuung notwendig. So kleine Kinder können sich nur wenige Minuten am Tag alleine beschäftigen. Gleichzeitig müssen besonders junge Eltern sich ihre Sporen noch verdienen. Sie müssen Leistung zeigen, flexibel sein und sich fortlaufend weiterbilden. Kurzum: sie müssen sich gegenüber ihren Kollegen und Chefs erst noch beweisen. Und da ist eine Kinderbetreuung zwischen 6 Uhr früh und 21 Uhr abends ohne Unterstützung der Kindertagesstätte und unter Wahrung der Schonung der Großeltern nicht eben förderlich. Dazu kommen noch Empfehlungen, dass Kinder in diesem Alter am Tag maximal 30 Minuten fernsehen sollen. Das alles ist eine riesige organisatorische Herausforderung. Nach der jüngst ausgesprochenen Empfehlung der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina sollte in Kindertagesstätten „der Betrieb nur sehr eingeschränkt wieder aufgenommen werden, denn kleinere Kinder könnten sich nicht an Distanzregeln und Schutzmaßnahmen halten.“ Es ist von einem Notbetrieb bis zu den Sommerferien die Rede. Na toll.
Videokonferenzen – Heil und Übel
Während ich hier schreibe, erinnert mich mein Kalender, dass ich in zehn Minuten eine Videokonferenz habe. Es geht um das weitere Vorgehen an der Hochschule. Eine tolle Erfindung, eigentlich. Man kann sich über Distanzen hinweg unterhalten, aber sich auch gegebenenfalls einfach mal ausklinken, ohne die Besprechung gleich ganz zu verlassen. Die Kamera bleibt dabei meistens aus. Ich meine, Wäscheständer und Bett im Hintergrund sind nicht gerade das attraktivste Hintergrundbild, oder? Videokonferenzen sind aber auch eine Krux in diesen Zeiten. Ich musste noch nie an so vielen Besprechungen teilnehmen wie derzeit. Im Mittel drei bis vier Stunden am Tag. »Videokonferenz« ist mein persönlicher Favorit für das Unwort des Jahres. Apropos, am Nachmittag darf ich zu einer zweistündigen Besprechung bezüglich eines EU-Förderantrages. Das bringt mich zum letzten Thema: die Forschung.
Chance der Forschung
Die Forschung ist nun wichtiger denn je. Sagt auch THD-Präsident, Prof. Sperber: „Es steht in unserer Verantwortung die Betriebe in der Krise durch Forschung und Innovationen zu unterstützen“. Und so versuchen wir mit Hochdruck, uns mit Firmen auszutauschen und Anträge für Fördermittel einzureichen. Neben zahlreichen Absprachen sind auch immer wieder Fristen einzuhalten, die die tägliche Arbeitslast enorm steigen lassen. Doch sehe ich vor allem jetzt für viele Betriebe die Chance gekommen, in Forschung und Innovationen zu investieren. In den letzten Jahren wurde aufgrund stets voller Auftragsbücher zwar immer wieder investiert, jedoch nur zu zaghaft in neue Technologien. Erst der Staat konnte durch sein Digitalisierungs- und vor allem KI-Programm die Innovationsfreude bei den Firmen steigern. Jetzt bietet uns die Pandemie die Chance, neue Industriezweige und mutige Innovationen, beispielsweise in der Versorgungsforschung oder des Umweltschutzes zu schaffen.
So, aus die Maus, ab in die Videokonferenz. Nachmittags noch eine Vorlesung virtualisieren, mit den Kindern spielen, mit meiner Frau Entscheidungen für unseren hoffentlich bald beginnenden Hausbau treffen, Kinder ins Bett bringen und abends um 21 Uhr endlich Zeit für Forschung und Transfer haben. Dann schlafe ich vermutlich auf der Couch ein. Von wegen Entschleunigung!
Thomas
Thomas Spittler ist Professor im Bereich Gesundheitsinformatik und Versorgungsforschung mit vielen internationalen Erfahrungen in Industrie und dem Gesundheitswesen. Seit mehr als zwei Jahren beschäftigt er sich neben der Virtualisierung der Lehre vor allem mit der Digitalisierung des Gesundheitswesens, der Weiterentwicklung der Versorgungsforschung sowie der Professionalisierung des Wissens- und Technologietransfers.