Mit dem Geburtstag von Florence Nightingale begehen wir am 12. Mai den Internationalen Tag der Pflege und machen besonders in der Pandemie auf die Zustände und auch Missstände in diesem Berufsfeld aufmerksam. 2020 war das Motto „Nurses: A Voice to Lead – Nursing the World to Health”. Dieses Motto zeigt sehr deutlich, dass es für die pandemische Entwicklung eine gute Gesundheitsversorgung braucht. Aber bei dem Thema Pflege geht es um mehr als um Pandemie, Pflegekräfte, die den Beruf hinter sich lassen, ausgebranntes Personal oder Personalnotstand in den Einrichtungen. Es geht um einen Beruf, der nicht ist, wie jeder andere. Einen Beruf, der ein ganz spezielles Klientel von Menschen anspricht. Menschen, die auf der einen Seite helfen wollen, die sich engagieren für andere und dennoch manchmal einfach nur bestmöglich ihren Job machen wollen. Doch warum wählen junge Menschen den Pflegeberuf und wie können wir sie für die Pflege gewinnen? Diese Frage könnte mit zwei Begriffen beantwortet werden: „Partizipation und Verantwortung“.
Pflegende sind Kümmerer
Partizipation meint echte Teilhabe für Pflegekräfte an einem ganzheitlichen Gesundheitsverständnis. An einem Versorgungsprozess, der alle Patientinnen und Patienten betrifft. Sie nehmen darin eine Rolle, als „Kümmerer“ ein. Als eine Person, die immer vor Ort bei den Patienten ist, egal ob zu Hause oder in einer Einrichtung. Genau diese Teilhabe ist es, die den zweiten Begriff so fundamental notwendig macht: Die Verantwortung als eine unteilbare Bürde, der sich jede Gesundheits- und Krankenpflegerin stellen muss. Diese Verantwortung hebt den Beruf zentral von vielen anderen Berufen ab. Es ist die Verantwortung gegenüber dem Leben der Patienten und dem eigenen Leben. Wenn man nach vielen Stunden Schichtarbeit, in denen teils auch viel emotionales Leid erlebt wird, dennoch seine soziale Rolle im Privaten erfüllt, dann trägt man die Verantwortung mit Erfolg. Viele in der Pflege schaffen das tagtäglich und sind mit hoher Motivation für ihre Patientinnen da.
Ein 100 Jahre altes Erfolgsmodell
Wie können wir diese Motivation und das Mindset stärken? Wir müssen ein Selbstverständnis der Pflegenden als echte eigene Berufsgruppe fördern. Durch politische Partizipation und Interessensverbände. Ein Sprachrohr in die Gesellschaft kann und darf nicht nur der mediale Aufschrei während der Pandemie sein. Dafür tragen alle Verantwortung, die mit Pflege in Berührung kommen. Und das sind beinahe alle Menschen in diesem Land auf irgendeine Art und Weise. Die Pflege in Deutschland hat es trotz der medialen Aufmerksamkeit kaum geschafft, ihr Selbstverständnis zu transformieren. Woher kommt dieses zögerliche, versteckte und sich vernachlässigende Selbstbild der Pflege? Wenn man sich kurz der Entwicklung in anderen Ländern widmen will, zeigt sich, dass in den USA mit Beginn des 20. Jahrhunderts bereits eine eigene Berufsgruppe „Pflege“ entstanden ist. Ein echtes eigenes Berufsbild mit attraktiven Karrierechancen. Bis zu 80 Prozent der „Nurses“ sind in den USA bereits jetzt akademisierte Pflegekräfte. Das bedeutet, dass wir von einem fast 100 Jahre alten Erfolgsmodell sprechen. Diesen Weg sind fast alle anglophonen Länder bereits gegangen. Sie haben versucht, eine Professionalisierung des Berufsfelds „Pflege“ einzuleiten. Mit folgendem Zitat von Lee F. Koch, US-Amerikaner, Gesundheits- und Krankenpfleger und Autor von Texten zum Theorie- und Praxistransfer in der Pflegeausbildung, wird dies ausdrücklich belegt: „Die Professionalisierung der Pflege hat in den angelsächsischen Ländern wesentlich früher begonnen als in Deutschland und ist auch heute wesentlich weiter fortgeschritten. Die Professionalisierung der Pflege bedeutet allerdings zwangsläufig eine Reform der Ausbildung.“
Selbstverständnis: Vorbild USA
Es zeigt sich, dass die Ausbildung der Schlüssel zum Erfolg sein wird. Hierbei geht es nicht um die Frage, welche Form die bessere oder schlechtere ist. Es geht vielmehr um einen Konsens in der Ausbildung von Pflegekräften. Ziel muss es sein, dass die Pflege sich als einheitliches Berufsfeld verstehen lernt. Während in Deutschland noch in den 1980er Jahren Klosterschwestern als Krankenschwestern eingesetzt wurden, hat man in den USA hart an einer akademisierten Pflege gearbeitet. Intention der Akademisierung ist nicht, die in Deutschland entwickelten Examen und die Berufsausbildung der Pflege zu diskreditieren. Wichtig ist jedoch, Perspektiven aufzuzeigen. Wie es werden kann. Wir haben in Deutschland beim „Nursing“ bis zu 50 Jahre Aufholbedarf. Wir müssen ein Selbstverständnis der Pflegerinnen und Pfleger etablieren. Das eines eigenen Berufsstands. Es geht wie erwähnt um die Begriffe Partizipation und Verantwortung. Diese stehen nicht nur für die individuelle Berufsentscheidung von Pflegenden, sondern auch für die Handlungsmaximen gesellschaftlicher Teilhabe eines Berufsstandes. „Registered Nurse“ ist die Bezeichnung für Berufseinsteiger in den USA. Dieser „Titel“ versteht sich im Selbstverständnis der Akteure als eine erste Stufe des Berufslebens. Erste Stufe! In Deutschland ist nach dem Examen Schluss. Sicherlich können durch Weiterbildungen zusätzliche Qualifikationen erworben werden, aber im Grunde reicht das Examen auf Lebenszeit aus. Anreize zur Weiterentwicklung sind nicht gegeben. In den Vereinigten Staaten hingegen kann der Titel „Registered Nurse“ auf Grund fehlender Weiterbildungen entzogen werden. Man muss Bereitschaft zeigen, sich zu entwickeln. Es besteht ein Anreiz für lebenslanges Lernen durch Zusatzqualifizierungen und auch durch Entlohnungssysteme, die mit den erworbenen Kompetenzen steigen. Genau hier muss eine akademisierte Pflege bei uns ansetzen. Die Entwicklung eines studentischen Selbstverständnisses mit dem Fokus auf wissenschaftliche Herangehensweisen im praktischen Pflegealltag, damit daraus auch eine Änderung im Selbstverständnis der Pflege erreicht wird.
Muss ich das wissen? Klar!
Wir können von einer Professionalisierung des Berufsstandes nur dann sprechen, wenn die Pflegekraft bei handwerklichen Tätigkeiten an Patientinnen sofort ernste gesundheitliche Probleme erkennen kann. Doch genau dies erfordert Wissen und Kenntnisse, die auch in das Feld der Pflegediagnostik reichen. Das Verständnis zu entwickeln, dass der Mensch als ganzheitlicher Organismus funktioniert, bedeutet echte Übernahme von Verantwortung. Pfleger sind diejenigen Personen, die am häufigsten Kontakt zu Patienten haben. Die Frage „Muss ich das wissen, ich bin doch keine Ärztin?“ kann nur so beantwortet werden: „Ja, natürlich. Weil alles, was du als Pflegerin weißt, ist zum Wohle der Patienten.“ Damit steht Pflege für einen verantwortungsvollen Beruf und echte Teilhabe am Gesundheitsprozess. Dies zu verstehen und daraus zielgerichtet handeln zu können, das ist eine vornehmliche Aufgabe sämtlicher Vermittler von Wissen und Fertigkeiten in den Ausbildungseinrichtungen. Egal ob Hochschule oder Berufsfachschule, alle sind gefordert. Es geht darum die Pflege attraktiv und zukunftsorientiert aufzustellen. Dazu müssen wir uns über den Konsens der Pflege einig sein. Unbedingtes Ziel ist es, mehr junge Leute für den Beruf zu begeistern. Und selbstverständlich die Berufserfahrenen zu halten. Damit wir nicht wie in den letzten Jahren mehr Abgänge als Zugänge in den Pflegeberufen haben.
Timo Steininger
Dr. Timo Steininger ist Leiter „Referat Praxis“ an der Fakultät Angewandte Gesundheitswissenschaften der Technischen Hochschule Deggendorf. Er hat 2020 das Start-up Quimedo gegründet, welches sich mit der digitalisierten Patientenüberleitung von stationärer Behandlung in die Reha oder die Pflege zu Hause beschäftigt. Weitere KI-basierte Projekte sind in der Pipeline.